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Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren (German Edition)

Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren (German Edition)

Titel: Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren (German Edition)
Autoren: Ilija Trojanow
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Dörre und Frank Deppe von der Universität Jena umfasst es in Japan und Deutschland ein Drittel aller Werktätigen – Länder, die vor nicht allzu langer Zeit international bewundert wurden für die langfristigen und verlässlichen Beziehungen zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern. In Südkorea und Spanien umfasst es mehr als die Hälfte. Weltweit machen Kernbelegschaften nur noch 20 Prozent aller Arbeitskräfte aus. Da die Illegalen nicht registriert und somit für kein Amt und keinen Soziologen dieser Welt erfassbar sind, liegt die Dunkelziffer mit Sicherheit höher. Diese Entwicklung wird sich fortsetzen, denn sie ist politisch gewollt. Laut dem jüngst veröffentlichten Programm der konservativen spanischen Regierung zum Kampf gegen die grassierende Jugendarbeitslosigkeit (mehr als 50 Prozent) soll viel Geld investiert werden, um junge Menschen zu Unternehmern heranzuziehen. Der kleine, selbstständige, sich selbst ausbeutende und völlig auf sich allein gestellte Dienstleister ist der künftige Held der Arbeit, denn er belastet die Bilanzen nicht und schmälert auch nicht die Profite, er bedarf keiner Sozialnetze, keiner Absicherung, er ist ein Drahtseilartist, der beim Absturz nur in einen Leichensack gesteckt und beseitigt werden muss. Kein Wunder, dass mit dem Anwachsen des Prekariats auch die Zahl der Selbstmorde steigt, eine Folge des massenhaften Abstiegs in die endgültige Überflüssigkeit. Wenn die Gesellschaft einem Menschen vermittelt, dass er nicht mehr gebraucht wird (es sei denn, es handelt sich um einen reichen Privatier), stellt dieser seine eigene Existenz grundsätzlich infrage.
    Die Überflüssigen sind keineswegs überflüssig, lässt man den herrschenden Arbeitsbegriff unserer Zeit außer Acht. Sie pflegen einen gebrechlichen Vater, einen dementen Partner oder widmen sich als alleinerziehende Mütter ihren Kindern. Sie helfen in der Nachbarschaft aus, sie engagieren sich, sie beschenken ihre Verwandten mit Selbstgestricktem (um nur einige beliebige Beispiele zu nennen). Wer seinem behinderten Sohn einen Filterkaffee zubereitet, ist eine Null, wer seinem Chef einen Espresso serviert, ist ein Assistent. Die nichtkommerzielle Fürsorge wird missachtet, gerät ins soziale Abseits.
    Organisationen wie die Caritas führen inzwischen den allergrößten Teil ihrer Tätigkeit als Dienstleister aus. Vom Karitativen allein lässt es sich nur noch schwer leben.

Die Ein-Euro-Reservisten
    One, two, three, four
    join the Marching Jobless Corps
    we don’t have to pay no rent
    sleeping in a camping tent
    dumpster diving don’t take money
    every bite we share with twenty
    let the yuppies have their wine
    bread & water suit us fine.
    Es ist dem System gelungen, ein Reservoir an kostengünstig verfügbaren Arbeitskräften zu füllen, ohne massive Proteste hervorzurufen. Die schrumpfende Mittelschicht solidarisiert sich mit den Reichen, obwohl sie erkennen müsste, wie wenig Chancen sie besitzt, am Reichtum zu partizipieren (außer natürlich durch die Lotterie). Die Friedfertigkeit der Bevölkerung erklärt sich vielleicht mit dem eklatanten Unterschied zwischen Reservisten und Überflüssigen. Erstere warten mit der grimmigen Energie einer letzten Hoffnung darauf, wieder einberufen zu werden in die Armee der Werktätigen, die Überflüssigen hingegen sind Flaschen ohne Pfand, sie werden weggeworfen, und da der Mensch – abgesehen von den Organen, die er verkaufen kann – als Material kaum wertvoller ist als eine leere Weinflasche, gibt es für seine Verschrottung nicht einmal eine Abwrackprämie.
    Ausgrenzung ist eine zwingende Folge der Ökonomisierung von alles und allem. Folgerichtig wächst die Zahl der Inhaftierten, nicht zuletzt aufgrund einer Kriminalisierung von geringfügigen Verstößen gegen die Ordnung. Nach Jahren des Rückgangs werden wieder häufiger Haftstrafen ausgesprochen. In Österreich ist die Zahl der Menschen im Strafvollzug von 5946 im Jahr 1989 auf 8816 im Jahre 2011 angestiegen, in der Schweiz von 2878 im Jahre 2008 auf 3280 im Jahre 2012 und in Deutschland von 46516 im Jahre 1995 auf 62348 im Jahre 2008. Den unfreien Vogel schießen die Vereinigten Staaten von Amerika ab (Weltspitze vor Ruanda und Georgien): 1980 waren 139 von 100000 US-Amerikanern inhaftiert, 2010 war diese Zahl auf atemberaubende 750 angestiegen. 25 Prozent aller Häftlinge weltweit sitzen zwischen Seattle und Miami ein: insgesamt 2,3 Millionen. Kein Wunder, dass die dortigen Gefängnisse inzwischen
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