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Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren (German Edition)

Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren (German Edition)

Titel: Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren (German Edition)
Autoren: Ilija Trojanow
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zu essen nur einen bescheidenen Vorrat an durchweichten Keksen. Als diese nach wenigen Tagen fast aufgezehrt waren, standen unangenehme Entscheidungen an, denn obwohl nicht wenige Schiffbrüchige in der Zwischenzeit gestorben waren (manche hatten sich ins Meer gestürzt, andere waren in Scharmützeln zwischen rivalisierenden Gruppen erdolcht worden), befanden sich weiterhin zu viele Menschen auf dem Floß. Der innere Zirkel der Anführer (die sich ihre aus den Hierarchien der Zivilisation geschöpfte Macht auch in der Wildnis anmaßten) beratschlagte auf einem erhöhten Deck in der Floßmitte, ob die Geschwächten nicht auf halbe Ration gesetzt werden sollten, entschied sich aber schließlich für eine eindeutige Lösung: die Schwächsten würden ins Meer geworfen werden, damit die zur Neige gehenden Vorräte für die Stärkeren übrig blieben. Wir wissen genau über die Beratschlagungen Bescheid, weil mehrere der insgesamt fünfzehn Überlebenden nach ihrer Rettung Berichte verfasst haben, die Aufsehen erregten, vor allem wegen des mit schlechtem Gewissen beschriebenen Kannibalismus. Da auf dem Floß einige frische Leichen herumlagen, musste im Gegensatz zu manch anderer Katastrophe auf hoher See niemand zu Ernährungszwecken geopfert werden. 1766 hatte die Besatzung der havarierten The Tiger einen der transportierten Sklaven getötet und sein Fleisch geräuchert. Nach dem Schiffbruch der amerikanischen Slup Peggy wurde ebenfalls ein Afrikaner zum Wohle der weißen Gemeinschaft durch einen Kopfschuss geopfert und in Salzlake eingelegt, was den Überlebenden für neun weitere Tage Nahrung sicherte. So brutal und bestialisch diese Ereignisse uns erscheinen mögen, sie unterscheiden sich nicht grundsätzlich von den sozialen und wirtschaftlichen Interdependenzen, die gegenwärtig global vorherrschen, und ihren katastrophalen Folgen.
    Die entscheidende Frage bei real oder vermeintlich existierender Überbevölkerung lautet: Auf wen können wir verzichten? Diese Frage wird niemals im Sinne der Gemeinschaft reflektiert, sondern von der Evidenz der Machtverhältnisse beantwortet – die Schwächsten gehen über Bord oder werden aufgefressen. Die Elite hegt keinen Zweifel an der eigenen Unersetzlichkeit, die Reichen zweifeln nicht an ihren gottgegebenen Privilegien, und die Oberschicht glaubt sich per se wertvoller als die Unterschicht. Insofern birgt der oft leichtfertig dahingesagte Satz »es gibt zu viele Menschen« enormen ethischen Sprengstoff.

Zu viel, zu viele
    Dank des milden Klimas und fruchtbaren Bodens wäre Irland in der Lage, das Dreifache seiner Einwohnerzahl zu ernähren, und niemand, außer einem Beamten der britischen Regierung, hätte behauptet, dass unter seinen geknechteten Einwohnern kein Anflug von Freiheitsgeist oder kein Lebensfünkchen zu finden sei. Man kann nur hoffen, dass diese schwachsinnigen, tyrannischen Herrscher für immer von irischem Boden vertrieben werden. Wie hübsch die englische Aristokratie doch über die Herrscher Neapels, Dahomeys und anderer Königreiche zu moralisieren weiß. Richtet den Blick auf das eigene Land, richtet den Blick auf London, und seht die Tausenden, deren Gesichter vom Schreckgespenst der Hungersnot gezeichnet sind; seht die einst schönen, tugendhaften und fleißigen Frauen, die nun gezwungen sind, ihren Kindern beim Sterben zuzusehen, weil es an Nahrung fehlt. Richtet den Blick auf die beiden Seiten der Medaille: die Erhabenheit des Rechts und das unendliche Elend eines edlen Volkes.
    Die letzten Worte des irischen Freiheitskämpfers Michael O’Brian
    Das Konzept der »Überbevölkerung« entwickelte sich mit der Moderne. Die einsetzende Industrialisierung vernichtete große Teile des Kleinbauerntums sowie des ländlichen Handwerks, die entwurzelten Menschen bildeten das Reservoir eines städtischen Proletariats, das als billige Arbeitskraft zwar eine wirtschaftliche Explosion ermöglichte, zugleich aber von beachtlicher revolutionärer Sprengkraft war. Die Lösung lag auf der kolonialen Hand: die vormodernen Regionen dienten als Auffangbecken für die Überbevölkerung der industriell entwickelten Gesellschaften, weswegen die Vorfahren der Bewohner Nordamerikas und Ozeaniens aus unseren Breiten stammen. Während der Great Famine von 1845–49, bei der mehr als eine Million Iren an Unterernährung starb, wanderten über 800000 Männer und Frauen nach Nordamerika aus. Die britische Regierung unternahm keine ernsthaften Bemühungen, die Hungersnot zu lindern
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