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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten
Autoren: Vargas Mario LLosa
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18. Jahrhundert ansässig war.
    Roger wurde zwar nach der anglikanischen Tradition der Church of Ireland erzogen, wie auch seine drei älteren Geschwister Agnes, genannt Nina, Charles und Tom, aber bereits als Kind ahnte er, dass hinsichtlich der Religion in seiner Familie weniger Einklang herrschte als anderswo. Selbst für einen kleinen Jungen war es nicht zu übersehen, dass seine Mutter, wenn sie mit ihren schottischen Geschwistern und Verwandten zusammen war, ein sonderbar geheimnistuerisches Verhalten an den Tag legte. Als Jugendlicher sollte er dem Rätsel auf die Spur kommen: Anne Jephson war zwar für ihre Heirat mit seinem Vater offiziell zum Protestantismus konvertiert, hatte ihren katholischen (für ihren Gatten papistischen) Glauben jedoch insgeheim beibehalten, ging zur Beichte und zur Messe und empfing die heilige Kommunion; und unter dem Siegel der größten Verschwiegenheit war sogar er selbst mit vier Jahren, im Zuge einer Urlaubsreise mit der Mutter nach Ryl in Nordwales zu den dort ansässigen Onkeln und Tanten, katholisch getauft worden.
    Weder zu jener Zeit in Dublin noch während seiner Jahrein London und Jersey hegte Roger irgendein Interesse für die Religion, mochte er auch aus Rücksicht auf seinen Vater aufmerksam und respektvoll in die Gebete und Psalmengesänge des Gottesdienstes einstimmen. Seine Mutter hatte ihm das Klavierspielen beigebracht, und er besaß eine klare, wohlklingende Stimme, die ihm Beifall einbrachte, wenn er bei Familienzusammenkünften alte irische Balladen sang. Wirklich gebannt war er nur von den Geschichten, die Hauptmann Casement ihm und seinen Geschwistern erzählte, wenn er guter Laune war. Geschichten aus Indien und Afghanistan, vor allem von den Kämpfen gegen die Afghanen und Sikhs. All die exotischen Namen und Landschaften, Reisen durch Urwälder und Gebirge, die Schätze, Raubtiere und Ungeziefer bargen, uralte Völker mit sonderbaren Bräuchen und heidnische Götter beflügelten seine Fantasie. Seine Geschwister langweilten diese Erzählungen mitunter, doch der kleine Roger konnte stundenlang den Abenteuergeschichten seines Vaters lauschen.
    Kaum hatte er zu lesen gelernt, verschlang er Bücher über die großen Seefahrer, über Wikinger, Portugiesen, Engländer und Spanier, die über die Weltmeere gesegelt waren und die alten Mythen Lügen gestraft hatten, nach denen die Ozeane an einem bestimmten Punkt zu brodeln begännen und aus ihren Tiefen Ungeheuer auftauchten, in deren Rachen ganze Schiffe verschwänden. So gern er auch las, hörte Roger doch immer noch am liebsten den Erzählungen seines Vaters zu. Hauptmann Casement hatte eine warme Stimme und beschrieb anschaulich und lebendig die indischen Dschungel oder die Schluchten des Chaiber-Passes in Afghanistan, wo sein Dragoner-Regiment einmal in den Hinterhalt einer Horde beturbanter Fanatiker geraten war, gegen die sich die tapferen Engländer erst mit Gewehren, dann mit Bajonetten und schließlich mit bloßen Fäusten zur Wehr setzen mussten, bis sie die Angreifer schließlich in die Flucht schlugen. Allerdings begeisterte sich der kleine Roger weniger für die eigentlichen Kämpfe als für die Reisen, bei denen Wege durch Regionenerschlossen wurden, die kein Weißer je zuvor zu Gesicht bekommen hatte, bei denen die körperliche Widerstandskraft auf eine harte Probe gestellt wurde und die Natur überwunden werden musste. Sein Vater war ein unterhaltsamer Mensch, gleichzeitig aber sehr streng, und er zögerte nicht, seine Kinder, die kleine Nina eingeschlossen, für schlechtes Benehmen mit der Peitsche zu züchtigen, denn so wurde Fehlverhalten in der Armee bestraft, und er hatte die Erfahrung gemacht, dass das Auspeitschen die einzig wirksame Form der Strafe war.
    Roger mochte seinem Vater zwar Bewunderung entgegenbringen, eine wesentlich tiefere Zuneigung empfand er hingegen für seine Mutter, diese schlanke, ätherische Frau mit den hellen Augen und Haaren, deren sanfte Hände ihm beim Baden durch die Locken oder über den Körper strichen und ihn mit Glückseligkeit erfüllten. Sehr früh – mit fünf oder sechs Jahren? – lernte er jedoch, dass er ihr nur entgegenlaufen und sich ihr in die Arme werfen durfte, wenn der Hauptmann nicht in der Nähe war. Getreu der Familientradition war sein Vater dagegen, Kinder zu verhätscheln und zu verweichlichen. In Gegenwart des Vaters hielt Roger sich stets auf Distanz zu seiner Mutter. War sein Vater aber mit Freunden im Club oder auf einem
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