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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten
Autoren: Vargas Mario LLosa
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Spaziergang, lief er zu ihr und wurde mit Küssen und Liebkosungen bedeckt. Manchmal protestierten Charles, Nina und Tom: »Du liebst Roger mehr als uns.« Ihre Mutter versicherte ihnen das Gegenteil, sie liebe alle gleich, nur sei Roger eben noch klein und brauche deshalb mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung als die Älteren. Trotzdem war Roger kein schwächliches Kind. Bald lernte er schwimmen, bei Wettrennen schlug er alle gleichaltrigen und manche älteren Kinder.
    Roger war neun Jahre alt, als seine Mutter 1873 starb. Im Unterschied zu Nina, Charles und Tom, die während der Totenwache und der Beerdigung untröstlich weinten, vergoss Roger keine Träne. Das Haus der Casements verwandelte sich in diesen düsteren Stunden in eine Begräbniskapelle mit etlichenBesuchern in Trauerkleidung, die wispernd sprachen und Hauptmann Casement und die vier Kinder mit betroffenen Mienen und Beileidsworten in die Arme schlossen. Roger verstummte mehrere Tage lang. Auf Fragen antwortete er mit einem Nicken oder einer Handbewegung, ansonsten starrte er mit gesenktem Kopf vor sich hin, selbst nachts in seinem dunklen Zimmer, wo er keinen Schlaf fand. Für den Rest seines Lebens sollte ihm die Gestalt von Anne Jephson immer wieder in seinen Träumen begegnen, in denen sie mit ihrem warmen Lächeln die Arme ausbreitete und er sich an sie schmiegte, beschützt und glücklich, während ihre feinen Finger über seinen Kopf, seinen Rücken, seine Wangen strichen und ihn gegen alles Übel der Welt feiten.
    Seine Geschwister kamen bald darüber hinweg. Roger scheinbar auch. Zumindest erwähnte er seine Mutter nie, als er wieder zu sprechen begann. Wenn irgendein Verwandter sich ihrer erinnerte, sagte er so lange nichts, bis derjenige das Thema schließlich wechselte.
    Wer ihren Tod nicht verwand und nie wieder der Alte wurde, war Hauptmann Casement. Weder Roger noch seine Geschwister hatten ihren wortkargen Vater der Mutter gegenüber je besonders liebevoll erlebt, doch über ihren Verlust kam er offenbar nicht hinweg. Er vernachlässigte seine sonst so tadellose Kleidung, rasierte sich nicht mehr und blickte seine Kinder mit gefurchter Stirn so finster an, als trügen sie die Schuld an seinem Witwertum. Kurz nach dem Tod von Anne beschloss er, aus Dublin wegzuziehen. Die vier Kinder schickte er nach Ulster auf den Familiensitz Magherintemple House, wo sich von nun an der Großonkel väterlicherseits John Casement und dessen Frau Charlotte um die Erziehung der Geschwister kümmerten. Als wollte er nichts mehr mit ihnen zu tun haben, ließ sich Hauptmann Casement vierzig Kilometer entfernt im Adair Arms Hotel in Ballymena nieder, wo er, wie es Großonkel John bisweilen entschlüpfte, »halb wahnsinnig vor Schmerz und Einsamkeit« seine Tage und Nächte mit spiritistischen Sitzungen zubrachte, um durchSpielkarten, Kristallkugeln oder ein Medium mit der Toten in Verbindung zu treten.
    Roger sah seinen Vater in der Folge nur noch selten, und nie wieder hörte er ihn Geschichten über Indien und Afghanistan erzählen. 1876, drei Jahre nach dem Tod seiner Frau, starb Hauptmann Roger Casement an Tuberkulose. Roger war gerade zwölf geworden. Auf der Ballymena Diocesan School, die er drei Jahre lang besuchte, war er ein zerstreuter, durchschnittlicher Schüler, nur in den Fächern Latein, Französisch und Alte Geschichte tat er sich hervor. Er war in sich gekehrt, schrieb Gedichte und verschlang Chroniken von Reisen nach Afrika und in den Fernen Osten. Er machte Sport, vor allem schwamm er. An den Wochenenden fuhr er häufig nach Galgorm Castle, Eigentum der Familie Young, der einer seiner Klassenkameraden entstammte. Allerdings verbrachte Roger weniger Zeit mit seinem Klassenkameraden als mit der etwas älteren, schönen und klugen Rose Maud Young, die selbst schrieb und durch die Fischer- und Bauerndörfer von Antrim zog, um gälische Gedichte, Legenden und Lieder zu sammeln. Durch sie lernte er die epischen Schlachten der irischen Mythologie kennen. Das Schloss mit seinem schwarzen Gemäuer, der Kathedralenfassade, den Türmchen, Wappen und Kaminen war im 17. Jahrhundert von Alexander Colville erbaut worden, einem Theologen von eher – nach seinem Porträt in der Eingangshalle zu schließen – verdrießlichem Wesen, der, wie eine Legende in Ballymena besagte, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte und dessen Geist fortan im Schloss spukte. Schaudernd wagte sich Roger in manchen Mondnächten auf die Suche nach ihm, durch Korridore und
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