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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten
Autoren: Vargas Mario LLosa
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leerstehende Zimmer, ohne ihn jemals aufzustöbern.
    Erst viel später gelang es ihm, sich in Magherintemple House wohl zu fühlen, dem Besitz der Casements, der früher Churchfield geheißen hatte und das Pfarrhaus der anglikanischen Gemeinde von Culfeightrin gewesen war. Denn die sechs Jahre, die er dort mit seinem Großonkel John, seiner Großtante Charlotte und anderen Verwandten väterlicherseitsverbrachte, hatte er sich immer etwas fremd gefühlt in dem mächtigen dreistöckigen Herrenhaus mit den grauen Steinmauern, den neugotischen Dächern und den schweren, gespenstisch aufgebauschten Vorhängen. Die großen Räume, langen Fluchten und Treppen mit ihren abgenutzten Holzgeländern und knarrenden Stiegen riefen ein tiefes Einsamkeitsgefühl in ihm hervor. Dagegen war er gern draußen zwischen den stämmigen Ulmen, Maulbeerfeigen- und Pfirsichbäumen, die den stürmischen Winden widerstanden, auf den sanften Hügeln voller Kühe und Schafe, von denen aus man das Dorf Ballycastle sah, das Meer, die an die Insel Rathlin schlagende Brandung und an klaren Tagen die Schemen der schottischen Küste. Er wanderte häufig in die benachbarten Dörfer Cushendun und Cushendall, die wie Schauplätze alter irischer Legenden anmuteten, und zu den neun Glens Nordirlands, jenen schmalen, von Hügeln und Felsen umragten Tälern, über denen die Adler ihre Kreise zogen, ein Anblick, der ihn bestärkte und froh stimmte. Er liebte die Ausflüge durch diese schroffen Gegenden, in denen die Bauern ebenso bejahrt waren wie die Bäume ringsum und untereinander zuweilen noch Altirisch sprachen, worüber sein Großonkel John und seine Freunde manchmal gehässige Witze machten. Weder Charles noch Tom teilten seine Begeisterung für die Natur, Streifzüge querfeldein oder Wanderungen durch die felsige Hügellandschaft von Antrim reizten sie nicht. Nina dafür schon, weshalb sie, obwohl acht Jahre älter als Roger, ihm die Liebste war und er die größte Zuneigung für sie hegte. Gemeinsam unternahmen sie mehrere Ausflüge in die Murlough Bay mit ihrem Kieselstrand am Fuße einer zerklüfteten Steilküste oder an die Mündung des Glenshesk, die ihm in lebenslange Erinnerung bleiben sollte und die er in seinen Briefen an die Familie »dieses Stück Paradies« nannte.
    Doch wichtiger noch als diese Wanderungen waren für Roger die Sommerferien in Liverpool, bei seiner Tante Grace, einer Schwester seiner Mutter, in deren Haus er sich willkommen und geliebt fühlte. Natürlich von Tante Grace,aber auch von ihrem Mann, Edward Bannister, der auf seinen Handelsreisen viel von der Welt gesehen hatte und auch nach Afrika gekommen war. Er arbeitete für die Schifffahrtsgesellschaft Elder Dempster Line , die Fracht- und Passagierverkehr zwischen Großbritannien und Westafrika betrieb. Die Kinder von Tante Grace und Onkel Edward waren Roger engere Spielgefährten als seine eigenen Geschwister, vor allem seine Cousine Gertrude Bannister, genannt Gee, stand ihm von klein auf sehr nahe. Die beiden waren so unzertrennlich, dass Nina sie aufzog: »Ihr werdet noch einmal heiraten.« Gee lachte darüber, doch Roger wurde tiefrot und stammelte mit gesenktem Blick: »Aber nein, was redest du denn für einen Unsinn.«
    Manchmal überwand Roger seine Schüchternheit und fragte Onkel Edward über Afrika aus. Allein die Erwähnung dieses Kontinents beschwor in seinem Kopf Dschungel, Raubtiere, Abenteuer und furchtlose Männer herauf. Durch seinen Onkel hörte er zum ersten Mal von Doktor David Livingstone, dem schottischen Arzt und Missionar, der seit Jahren den afrikanischen Kontinent erforschte, dabei Flüsse wie den Sambesi und den Shire befuhr, Berge und noch unbekannte Gebiete mit Namen versah und unzivilisierten Stämmen das Christentum brachte. Er war der erste Europäer gewesen, der Afrika von Westen nach Osten durchquert hatte, und war zum allseits bewunderten Helden des Empire geworden. Roger träumte von ihm, verschlang die Artikel, die von seinen Großtaten berichteten, und hätte nur zu gern selbst an diesen Expeditionen teilgenommen und allen Gefahren zum Trotz dem Missionar geholfen, jene noch in der Steinzeit lebenden Heiden zum rechten Glauben zu bekehren. Als Livingstone auf seiner Suche nach den Quellen des Nils im afrikanischen Urwald verschollen ging, war Roger zwei Jahre alt. Und als 1872 ein weiterer legendärer Forscher, Abenteurer und Journalist walisischen Ursprungs, Henry Morton Stanley, den eine New Yorker Zeitung entsandt hatte, wieder
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