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Der Totenleser

Titel: Der Totenleser
Autoren: Michael Tsokos
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sich zweifelsfrei belegen, dass der Jugendliche das Mädchen nicht erst gefesselt hatte, als sie schon bewusstlos am Boden lag, denn die tiefen Fesselungsspuren an beiden Handgelenken zeugten eindeutig von heftiger Gegenwehr und den Befreiungsversuchen des Kindes. Zudem hätte er die sexuellen Handlungen ohne vorheriges Fesseln an dem für sein Alter großen und kräftigen Mädchen nicht ver üben können, zumal Michelle ja einen Selbstverteidigungskurs absolviert hatte.
    Die Hauptabweichung zwischen der neuesten Version des Angeklagten und dem von den Ermittlern rekons truierten Tatgeschehen betraf den Zeitpunkt der Tötung. Nikolas Wiedemann bestand darauf, er habe die Siebenjährige zunächst ohnmächtig im Keller liegen lassen. Erst später, nachdem er in der Wohnung gewesen sei und danach die Flecken im Keller beseitigt habe, habe er der immer noch bewusstlosen, aber noch atmenden Michelle Angerer den Schal vors Gesicht gebunden und das Kabel um Hals und Füße geknotet, um sie so in den Umzugskarton zu heben.
    Auch dieser Behauptung widersprach das Gericht, auch wenn Obduktion oder DNA-Gutachten hier keine Beweise liefern konnten. Hier stützte sich der Vorsitzende Richter mit seinen zwei beisitzenden Richterinnen sowie den beiden Schöffen in der Hauptsache auf gesunden Menschenverstand. Da der Angeklagte bereits zugegeben hatte, das Mädchen aus Angst vor Entdeckung seiner Sexualtat getötet zu haben, war es mehr als unwahrscheinlich, dass er zunächst hoch in die Wohnung geht und danach erst einmal Spuren beseitigt, bevor er sein Opfer zum Schweigen bringt. Das Risiko, dass Michelle aufwacht und um Hilfe schreit oder sich gar aus dem Keller befreit, wäre viel zu groß gewesen.
    Von zentraler Bedeutung für Urteil und Strafbemessung war natürlich die Frage, ob Nikolas Wiedemann das zuvor vergewaltigte Kind tatsächlich ermordet hatte oder ob sie auf andere Weise zu Tode gekommen war. In seiner angeblich nun der Wahrheit entsprechenden Darstellung des Geschehens gab der Angeklagte an, das Mädchen müsse sich – von ihm unbeabsichtigt – im bewusstlosen Zustand mit dem Kabel, das wie eine »chinesische Schaukel« um Hals und Füße gebunden war, selbst stranguliert haben. Dagegen sprach bereits einerseits, dass der 17-Jährige längst zugegeben hatte, Michelle getötet zu haben, damit sie ihn nicht verriet. Doch in diesem Fall ließ sich der ohnehin wahrscheinliche Sachverhalt auch rechtsmedizinisch belegen:
    Als Sachverständiger schilderte ich den Anwesenden die entscheidenden Obduktionsbefunde, mit denen die Polizei den Angeklagten schon bei seiner Vernehmung konfrontiert hatte. Anschließend erklärte ich, warum unter den beschriebenen Umständen die vom Angeklagten behauptete Selbststrangulierung nicht die Todesursache gewesen sein konnte:
    Zwar war das Elektrokabel zwischen Hals und Füßen so eng gespannt, dass es den ganzen Körper in eine Art Schaukelstellung bog, was durchaus eine Strangulation ohne weiteres Zutun durch Nikolas ermöglicht hätte. Doch bei der Obduktion hatten wir festgestellt, dass dieses Kabel nur »eintourig« um den Hals gewickelt war. Der Knoten dieses Elektrokabels saß im Nacken, da der Angeklagte das Kabel von dort aus mit ihren Füßen verbunden hatte – nach seinen eigenen Schilderungen zu dem Zweck, die angeblich nur bewusstlose Michelle in den Karton zu heben. Sowohl die Drosselmarken am Hals als auch die entsprechenden Verletzungen der Halsweichteile waren jedoch zweifach vorhanden gewesen. Daher kam als Todesursache nur ein Erdrosseln mit »doppeltouriger« Schlingenführung in Frage. Ein weiteres entscheidendes Detail war, dass nach dem Erscheinungsbild der zweifachen Drosselmarke der Knoten des Kabels, mit dem Michelle erdrosselt wurde, an der Vorderseite des Halses gelegen haben musste. Nikolas Wie demann hatte ihr direkt ins Gesicht gesehen, während er die Schlinge zuzog. Die einfache Kabelschlinge, die wir vor der Obduktion vom Hals des Kindes entfernen mussten, hatte weder Verletzungen der Halsweichteile noch Strangulationsmale hinterlassen. Das hieß, Michelle war bereits tot, als der Täter ihr dieses Kabel um den Hals band.
    Damit war die Tat aus Sicht des Gerichts hinreichend geklärt: Es handelte sich um Vergewaltigung in Tateinheit mit anschließendem Mord aus sogenannter Verdeckungsabsicht.
    Bevor jedoch ein Urteil gefällt werden konnte, musste zunächst über die Schuldfähigkeit des Angeklagten entschieden werden. Grundlage für diese Entscheidung
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