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Der Tote vom Strand - Roman

Der Tote vom Strand - Roman

Titel: Der Tote vom Strand - Roman
Autoren: H kan Nesser
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Stein, den sie ganz tief versenkt hatte, in
den schlammigen Grund ihres Vergessens, doch den sie heraufzuziehen versprochen hatte, wenn die Zeit gekommen wäre.
    Behutsam und respektvoll natürlich, aber er musste eben ans Licht. Musste Mikaelas zwingendem Blick vorgelegt werden. Es ging nicht anders. Egal, wie sie es auch drehten und wendeten — es war eine Art Ungleichgewicht, das nun seit vielen Jahren darauf wartete, wieder in Balance gebracht zu werden, und jetzt war es so weit.
    Der achtzehnte Geburtstag. Obwohl sie nicht darüber gesprochen hatten, hatte auch Helmut es gewusst. Er war sich die ganze Zeit über die Situation im Klaren gewesen, hatte sie aber nicht wahrhaben wollen... dass ein Tag kommen musste, an dem Mikaela die Wahrheit aufgetischt wurde. Niemand hatte das Recht, einem Kind seinen Ursprung vorzuenthalten. Seine Wurzeln unter Bagatellen und Alltäglichkeiten zu verstecken. Es beim Eintritt ins Leben auf einen falschen Weg zu locken.
    Recht? Leben? Wahrheit? Später begriff sie nicht, wie sie mit dermaßen großartigen Worten hatte jonglieren können. War das nicht gerade die Art von Hochmut, die zurückgeschlagen und sich gegen sie gekehrt hatte? War das nicht so?
    Wer war sie denn, dass sie von falsch und richtig redete? Wer war sie, dass sie so leichtfertig ihre Entscheidung traf und Helmuts übellaunige Einwände abschüttelte, ohne ihnen mehr als eine Dreiviertelsekunde des Nachdenkens zu widmen? Damals jedenfalls. Damals, als ihr das alles noch übertrieben vorgekommen war.
    Dann kamen diese Tage und Nächte, als alles auch den letzten Rest von Bedeutung und Wert zu verlieren schien, als sie zum Roboter wurde und diese früheren Gedanken nicht einmal mehr sah, die wie zerfetzte Wolkenreste am bleigrauen Nachthimmel des Todes an ihr vorüberzogen. Sie ließ sie einfach dahingleiten, auf ihrer trostlosen Reise von Horizont zu Horizont.
    Von der Vergessenheit in die Vergessenheit. Von der Nacht zur Nacht, von der Finsternis zur Finsternis.
    Vom Stein bist du gekommen.

    Aus deiner klaffenden Wunde steigt dein stummer Schrei zu einem toten Himmel empor.
    Der Schmerz des Steins. Härter als alles.
    Und der Wahnsinn, ja, der Wahnsinn, wartete gleich hinter der nächsten Ecke.
     
    Der achtzehnte Geburtstag. Ein Freitag. Ein Juli, so heiß wie die Hölle.
    »Ich mache es, wenn sie vom Training nach Hause kommt«, hatte sie gesagt. »Dann brauchst du nicht dabei zu sein. Danach essen wir dann in aller Ruhe. Sie wird es gelassen aufnehmen, das spüre ich.«
    Zuerst nur beleidigtes Schweigen.
    »Wenn es unbedingt sein muss«, hatte er dann endlich gesagt. Als er schon am Spülbecken stand und seine Tasse auswusch.
    »Du trägst die Verantwortung. Nicht ich.«
    »Ich muss es tun«, verteidigte sie sich. »Vergiss nicht, dass ich es ihr an ihrem fünfzehnten Geburtstag versprochen habe. Vergiss nicht, dass ein Leerraum gefüllt werden muss. Sie wartet doch darauf.«
    »Sie hat es aber nie erwähnt«, sagte er. Aus dem Mundwinkel. Abgewandt.
    Das stimmte. Auch das musste sie zugeben.
    »Blödsinn, aber mach, was du willst. Wozu soll das eigentlich gut sein?«
    So viele Wörter. Genauso viele. Dann ging er.
    Blödsinn?
    Tue ich es für sie oder für mich?, fragte sie sich dann.
    Ursachen? Beweggründe?
    Undurchdringlich wie das Grenzland zwischen Traum und Wirklichkeit. Unergründlich wie der Stein selber.
    Floskeln, Wortpflaster. Das wusste sie jetzt.

3
    9. Juli 1999
     
    Als Kriminalinspektorin Ewa Moreno vor Hauptkommissar Reinharts Bürotür stehen blieb, war es Viertel nach drei am Nachmittag, und sie sehnte sich nach einem kalten Bier.
    Wäre sie in eine andere Gesellschaftsklasse hineingeboren worden oder mit etwas mehr Fantasie begabt gewesen, dann hätte sie sich möglicherweise nach einem Glas kalten Champagner gesehnt (oder warum nicht gleich nach vier oder fünf?), aber an diesem Tag waren alle Gedankenflüge und alle Sehnsuchtsbilder bereits in den frühen Morgenstunden verdampft. Es war gute dreißig Grad über Null, und das schon den ganzen Tag. Und zwar in der Stadt wie auf der Wache. Der Hochdruck strahlte wie ein vergessenes, durchgedrehtes Bügeleisen, und genau genommen gab es wohl, abgesehen von kalten Getränken, nur zwei Überlebensmöglichkeiten: am Strand und im Schatten.
    Auf der Wache von Maardam glänzte Ersterer durch Abwesenheit.
    Aber es gab Rollos. Und garantiert sonnenlose Gänge. Sie blieb mit der Hand auf der Klinke stehen und unterdrückte einen Impuls (auch der
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