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Der Tote vom Silbersee (German Edition)

Der Tote vom Silbersee (German Edition)

Titel: Der Tote vom Silbersee (German Edition)
Autoren: Ursula Schmid , Christine Schneider
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Augenblick zwei düstere Gestalten aus dem See auftauchten. Die schwarzen Neoprenanzüge glänzten. Sie zogen etwas ans Ufer. Die Atemmasken und die Sauerstoffgeräte auf dem Rücken wirkten unheimlich. Das Bild von Außerirdischen drängte sich Lena auf. Sie konnte ihren Blick nicht abwenden und sah das schneeweiße Gesicht eines Mannes, den die Taucher an den Schultern ins Gras zogen.
    »Vielleicht sollten Sie sich diesen Anblick ersparen«, hörte Lena die Kommissarin in ihrem Rücken. Sie nickte. Trotzdem warf sie einen weiteren Blick zum Toten hin. Das Gesicht erinnerte sie an Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett in London: weißlich-grau. Lena fror.
    »Da haben wir wahrscheinlich wieder so einen Mitternachtsschwimmer, der nicht lesen kann!«, rief einer der Männer, nachdem er seine Kopfmaske abgezogen hatte.
    »Kann ich gehen?«, fragte Lena mit wackliger Stimme.
    »Was war denn da los?« Der Nachtportier öffnete Lena die Tür. »Das Blaulicht konnte man bis ins Hotel sehen.«
    »Ich habe einen Arm im Silbersee gefunden. Entschuldigen Sie bitte, ich bin todmüde, will nur noch ins Bett«, murmelte Lena.
    Mit einer knappen Verbeugung meinte der Mann: »Kann ich noch etwas für Sie tun, gnädige Frau?«
    Als Lena den Kopf schüttelte, trat er an den Lift, drückte den Knopf und öffnete die Tür.
    »Eine schöne Restnacht«, wünschte er.
    Trotz der Müdigkeit konnte Lena nicht einschlafen. Sie lag den Rest der Nacht wach. Drehte sich unruhig hin und her. Leicht duselte sie weg. Die Kommissarin hatte ihr geraten, nicht hinzusehen. Das wächserne Gesicht des Toten ließ sie keinen Schlaf finden.
    Sie stand auf, ging ins Bad, um ein Glas Wasser zu trinken. Selbst dorthin verfolgten sie das weiße Gesicht und die Geisterhand im Wasser. Kurz nach sechs Uhr gab sie es auf. Eine Dusche würde ihr gut tun und Kaffee. Eine große Kanne schwarzer Kaffee. Sie orderte ihn aufs Zimmer.
    Alois hatte seinen Dienst bereits angetreten und es sich nicht nehmen lassen, Lena höchstpersönlich den Kaffee zu bringen.
    »Geht es Ihnen gut?«
    Alois Gesicht zeigte tiefe Sorgenfalten. Sie lächelte dem älteren Mann dankbar zu.
    »Danke der Nachfrage, das war ein ganz schöner Schock heute Nacht.«
    »Der Nachtportier hat mir Bescheid gesagt, dass Sie eine unliebsame Begegnung hatten. Der Kaffee ist extra stark, ganz so, wie Sie ihn immer trinken, Frau Wälchli.«
    »Das haben Sie sich gemerkt?« Lena nickte dankbar.
    Trixi sprang wedelnd aufs Bett.
    »Dir habe ich den ganzen Schlammassel zu verdanken!«, grummelte Lena. »Warum musstest du auch meine Guetsli naschen?«
    Sie nahm einen großen Schluck Kaffee, verschluckte sich und bekam einen Hustenanfall. Alois hatte recht, er war stark; er hätte sogar Tote zum Leben erweckt.
    April 1969
    Sie würden wieder auf ihn warten. Gestern hatte er einen anderen Weg nach Hause nehmen wollen. Er entkam ihnen nicht. Beobachteten sie ihn? Sollte er schreien? Ob seine Mutter ihn hören würde? Wohl kaum, denn auf dem Gehweg vor dem Haus verschluckten die dicken Hecken alle Geräusche. Er hatte dem Flachgesicht wieder die Schuhe küssen müssen. Diesmal hatten sie sich noch eine weitere Demütigung ausgedacht.
    »Leck mir die Schuhe sauber!«, hatte das Flachgesicht befohlen. Und der andere hatte den Fuß auf seinen Rücken gestellt.
    »Wird’s bald!« Der Druck des Stiefels auf seinem Rücken verstärkte sich. Langsam streckte er seine Zunge heraus.
    Sein Vater hatte auch wieder zugeschlagen. Mit dem Gürtel. Sein ganzer Rücken war blau. Die Worte hallten noch in seinem Ohr. »Du fauler, undankbarer Sohn, du. Meinst wohl, ich schufte mich zu Tode, damit du hier wie die Made im Speck lebst? Faul bist du, faul, faul, faul!«
    Tag und Nacht hatte er gelernt, alle englischen Wörter vorwärts und rückwärts aufgesagt. Doch bei der Probearbeit war alles weg; er hatte einen Blackout. Es war wie eine schwarze Wand. Der Schweiß lief ihm in Bächen den Rücken herunter. Sein Gehirn war nicht mehr in der Lage, eine einzige Vokabel abzurufen. Erst gegen Ende der Arbeit wurde das schwarze Loch leicht grau. Schnell schrieb er noch ein paar Wörter auf, bevor er das Blatt abgeben musste. Es reichte immer noch zu einer Drei. Aber das war natürlich zu schlecht. Diesmal hatte sein Vater heftiger denn je zugeschlagen. Sein ohnehin schon blauer Rücken wurde nun violett. Den Sportunterricht schwänzte er. Nicht auszudenken, wenn ihn sein Sportlehrer oder die Mitschüler auf sein lädiertes Aussehen
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