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Der Todesstoss

Der Todesstoss

Titel: Der Todesstoss
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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mehr aufgewühlt, als er zugeben
wollte, und seine Gedanken kehrten gegen seinen Willen zu
jener schrecklichen Nacht vor zehn Jahren zurück. Er wehrte
sich mit aller Macht gegen die Bilder, die in seinem Geist
Gestalt annehmen wollten, aber es war ein Kampf ohne
Aussicht auf Erfolg. Es hatte in den letzten zehn Jahren kaum
einen Tag gegeben, an dem er sich nicht an die entsetzlichen
Minuten erinnert hatte. Die Bilder hatten sich unauslöschlich
und für alle Zeiten in sein Bewusstsein eingebrannt.
Sie hatten Draculs Burg verlassen und waren zum Waldrand
geeilt, wo Maria auf sie warten wollte. Aber Maria war nicht da
gewesen. Stundenlang war Andrej durch den Wald geirrt, hatte
ihren Namen gerufen und sich an die immer verzweifelter
werdende Hoffnung geklammert, dass sie vielleicht am falschen
Ort gesucht hatten, dass Maria sich in der Dunkelheit vielleicht
verirrt haben könnte …
Was wirklich passiert war, hatten das erste Licht des neuen
Tages und Abu Duns Talent als Fährtensucher offenbart. Sie
hatten Spuren gefunden, die eine eindeutige Geschichte
erzählten. Maria war am vereinbarten Treffpunkt gewesen, aber
jemand war gekommen und hatte sie gewaltsam entführt.
Tagelang waren sie diesen Spuren gefolgt, bis sie sich
schließlich verloren hatten.
Und das war für zehn Jahre das letzte Lebenszeichen von
Maria gewesen.
Sie waren kreuz und quer durch das Land gezogen, und es
war ganz genau so gewesen, wie Abu Dun gerade behauptet
hatte: Er hatte ein Dutzend Mal geglaubt, sie gefunden zu
haben, und die Erkenntnis, dass es nicht Maria war, war jedes
Mal eine größere Enttäuschung gewesen als zuvor. Vielleicht
hatte Abu Dun Recht, und sie war längst tot oder lebte jetzt in
einem weit entfernten Land und hatte vergessen, dass es ihn
gab, und ganz bestimmt hatte er Recht, wenn er sagte, dass er
sich nur selbst quälte. Aber er konnte sie einfach nicht
vergessen. Vielleicht gab es in seinem Leben nur Platz für diese
eine Liebe, und möglicherweise …
Neben ihm ertönte ein Stöhnen, gefolgt von einem halb
erstickten Schluchzen. Andrej fuhr zusammen und sprang in die
Höhe.
Die Zigeunerin war aus ihrer Starre erwacht. Sie war auf die
Seite gesunken und hatte sich zusammengerollt wie ein
schlafendes Baby, aber sie zitterte am ganzen Leib und
schluchzte ununterbrochen, und als Andrej bei ihr ankam und
die Hand nach ihr ausstreckte, schrie sie auf und schlug nach
ihm.
Andrej fing ihren Schlag ab und hielt ihre Hand fest, aber sehr
vorsichtig, um ihr nicht wehzutun. Sie schlug auch mit der
anderen Hand nach ihm und traf ihn zweimal hart im Gesicht,
bevor es ihm gelang, auch ihr zweites Handgelenk zu packen
und festzuhalten. Im nächsten Moment rammte sie ihm das
Knie mit solcher Wucht in den Unterleib, dass ihm die Luft
wegblieb.
Andrej ächzte, drehte sich halb auf die Seite, um einem
weiteren harten Tritt zu entgehen, und presste die Zigeunerin
mit seinem ganzen Körpergewicht zu Boden. Er war ungleich
stärker als sie, und dennoch kostete es ihn seine ganze Kraft, sie
auch nur halbwegs in Zaum zu halten.
»Hör doch auf!«, schrie er. »So beruhige dich doch! Wir
wollen dir nichts tun!«
Als Antwort riss sie ihre linke Hand los und versuchte, ihm
die Augen auszukratzen. Andrej drehte hastig den Kopf zur
Seite, sodass sie ihm nur die Wange zerschrammte. Wütend
packte er ihr Handgelenk und hielt es diesmal mit deutlich
größerer Kraft fest. Die Zigeunerin bäumte sich so
überraschend und mit solcher Kraft auf, dass er beinahe
umgeworfen worden wäre. Andrej fluchte, presste ihre Hände
und Schultern auf den Boden und benutzte sein Knie, um ihre
strampelnden Beine zu blockieren. Sie hob den Kopf und
versuchte ihn zu beißen, und Andrej drehte hastig das Gesicht
weg, bevor er ein Ohr einbüßte.
Hinter ihm lachte Abu Dun leise. »Braucht Ihr Hilfe, Sahib?«,
fragte er spöttisch.
Andrej schluckte einen Fluch hinunter, bugsierte sich in eine
Position, in der er das zappelnde Bündel unter sich zuverlässig
festhalten konnte, ohne dabei ein Auge, ein Ohr oder
irgendwelche anderen Körperteile zu verletzen, und presste ihre
Hände mit noch größerer Kraft gegen den Boden.
Die Zigeunerin tobte noch einige Sekunden weiter, dann
erschlaffte sie plötzlich, als hätte der jähe Ausbruch von Gewalt
all ihre Energie aufgezehrt.
Im ersten Moment befürchtete Andrej schon, sie könne
wieder in jenen Zustand dumpfen Brütens zurückfallen, in dem
sie bisher gewesen war, aber ihr Blick
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