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Der Todesstoss

Der Todesstoss

Titel: Der Todesstoss
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Zigeunerin, und Abu Dun sagte: »Hätten
ihre Wunden nicht längst heilen müssen?«
»Sie ist noch sehr jung«, antwortete Andrej ausweichend.
»Vielleicht ist sie noch nicht lange …«
»So wie du?« Abu Dun war immerhin rücksichtsvoll genug,
das Wort Vampyr nicht zu benutzen. »Hast du vergessen, was
Radic erzählt hat?
Gestern Abend hat sie sich geschnitten, und die Wunde war
am Morgen verheilt.«
»Vielleicht ist sie morgen wieder gesund«, antwortete Andrej.
Allerdings fehlte seiner Stimme jegliche Überzeugungskraft.
»Ich kann kein Feuer machen«, sagte Abu Dun. »Aber wir
haben noch etwas kaltes Fleisch. Bist du hungrig?«
»Nein«, antwortete Andrej. »Aber vielleicht möchte sie etwas
essen.« Er wandte sich an das Mädchen. »Hast du Hunger?«
Wie erwartet gab es keine sichtbare Reaktion. Aber Andrej
glaubte ein schwaches Flackern in ihrem Blick zu bemerken.
Wie ein winziger, fast schon im Ersterben begriffener Funke in
der erkaltenden Asche eines Feuers.
»Wahrscheinlich braucht sie einfach nur Ruhe«, antwortete
Andrej.
»Schlaf ist manchmal die beste Medizin.«
»Wo du es sagst - ich könnte auch etwas von dieser Medizin
gebrauchen«, sagte Abu Dun. »Aber vorher sollten wir uns
unterhalten.«
Das hatte Andrej befürchtet. Er wollte nichts weniger, als
dieses Gespräch führen, aber er kannte Abu Dun zur Genüge. Er
würde ihm nicht entgehen, nur weil er das Gespräch
hinauszögerte.
Indem er so tat, als müsse er sich davon überzeugen, dass mit
der Zigeunerin auch wirklich alles in Ordnung war, gewann er
noch einige Augenblicke. Dann stand er auf und folgte Abu
Dun.
Sie entfernten sich ein paar Schritte - als ob es nötig gewesen
wäre, außer Hörweite des Mädchens zu gelangen. Andrej war
sehr sicher, dass sie nichts von dem sah oder hörte, was um sie
herum geschah.
»Und?«, fragte er, als Abu Dun stehen blieb.
»Was - und? Diese Frage wollte ich dir gerade stellen«, sagte
Abu Dun.
»Was denkst du, sollen wir jetzt tun? Dir ist klar, dass sie
spätestens nach Tagesanbruch anfangen werden nach uns zu
suchen, oder?«
»Hast du vergessen, wessen Idee es war, die
Hexenverbrennung zu stören?«
»Ich hatte dabei nicht im Sinn, wie der Leibhaftige
aufzutreten und möglichst allen zu beweisen, dass ihr
Aberglaube vielleicht nicht ganz so unbegründet ist. Und ich
hatte auch nicht vor, den ganzen Ort niederzubrennen. Um ganz
ehrlich zu sein, hatte ich etwas Zurückhaltenderes vor.«
»Ich weiß«, sagte Andrej. »Gut, du hast Recht. Ich habe einen
Fehler gemacht. Ich habe die Beherrschung verloren. Sobald ich
eine passende Rute gefunden habe, werde ich mich ein bisschen
kasteien.«
»Darf ich das übernehmen?«, fragte Abu Dun grinsend. Dann
wurde er sofort wieder ernst. »Du hast sie nie vergessen, nicht
wahr ?«
»Maria?« Andrej schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Ich weiß nicht, ob ich dich verstehen kann«, sagte Abu Dun
leise. »Ich habe niemals erfahren, was es heißt, jemanden zu
lieben. Aber wenn ich mir dich ansehe, dann bin ich froh
darüber.«
»Du weißt nicht, was du redest«, erwiderte Andrej.
»Ich weiß, dass du besessen bist«, sagte Abu Dun. »Wie
lange ziehen wir jetzt schon durch die Welt und suchen nach
ihr? Zehn Jahre? Wie oft hast du geglaubt, sie gefunden zu
haben? Zehnmal? Hundertmal? Und wie oft hast du dich selbst
gequält, wenn du zugeben musstest, dass sie es doch nicht war?
Heute Abend hättest du uns beide fast umgebracht, nur weil
du geglaubt hast, dieses Mädchen wäre Maria.«
»Niemand zwingt dich, bei mir zu bleiben«, antwortete
Andrej spröde.
»Du kannst gehen.«
»Wie einfach!« Abu Dun wurde böse. »Aber das wäre feige,
und Abu Dun ist kein Feigling, der einen Freund im Stich lässt,
wenn dieser ihn am meisten braucht.«
Andrej wollte auffahren, aber sein Zorn war nicht stark
genug, weil er aus dem Verstand kam, nicht aus dem Gefühl.
Statt den Piraten anzubrüllen, flüsterte er leise: »Du hast Recht,
Abu Dun. Du weißt nicht, was es heißt, einen Menschen zu
heben.«
Für endlose Augenblicke standen sie einfach schweigend da
und starrten einander an, und schließlich drehte sich Abu Dun
um und ging davon. Auch Andrej blieb nur noch einen Moment
stehen, ehe er zum Waldrand zurück ging und sich gegen einen
Baum lehnte. Er schloss die Augen. Für Abu Dun oder jeden
anderen zufälligen Beobachter musste es so aussehen, als ob er
schlafe, aber hinter seiner Stirn jagten sich die Gedanken immer
schneller.
Abu Duns Worte hatten ihn
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