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Der Todesstoss

Der Todesstoss

Titel: Der Todesstoss
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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um dem Mädchen beim Absteigen zu helfen. Es hatte
die ganze Zeit wortlos und wie erstarrt hinter ihm gesessen, und
es reagierte auch jetzt nicht. Sein Blick war noch immer in eine
schreckliche Leere gerichtet, und Andrej fragte sich, ob es
jemals wieder daraus zurückfinden würde.
»Warte.« Abu Dun trat mit zwei schnellen Schritten neben
ihn, hob das Mädchen ohne die geringste Anstrengung vom
Pferd und setzte es behutsam zu Boden.
»Kümmere dich um sie«, sagte er grob. »Ich bereite das
Lager.«
Andrej nickte dankbar. Abu Dun war nicht glücklich darüber,
dass sie das Mädchen mitgenommen hatten, obwohl es genau
genommen sein Vorschlag gewesen war. Natürlich hätten sie
das Mädchen unmöglich zurücklassen können; das wäre sein
sicheres Todesurteil gewesen. Dennoch war sie schon jetzt eine
Last für sie, und falls die Dörfler Hilfe holen würden und sie
schnell verschwinden müssten - was wahrscheinlich war -, dann
würde sie mehr als nur eine Last sein.
»Komm mit!«, sagte er. »Die Zigeunerin reagierte immer
noch nicht, und Andrej nahm sie bei der Hand und führte sie die
wenigen Schritte zum Wasser hinunter. Sie folgte ihm
willenlos. Wenigstens etwas.
Er setzte das Mädchen direkt am Wasser ab, ging zu seinem
Pferd zurück und kramte ein halbwegs sauberes Tuch aus der
Satteltasche. Nachdem er wieder zum See zurückgegangen war
und es ins Wasser getaucht hatte, begann er vorsichtig, zuerst
die Hände und dann das Gesicht der Zigeunerin vom gröbsten
Schmutz zu reinigen. Darunter kam ein Mädchen zum
Vorschein, das in wenigen Jahren durchaus zu einer Schönheit
heranwachsen konnte.
Andrej spürte, wie sich ein schon fast vergessen geglaubtes
Gefühl in ihm regte. Wie lange war es her, dass er keine Frau
mehr gehabt hatte? Monate?
Zehn Jahre, dachte er bitter. Seit er Maria verloren hatte.
Natürlich hatte er seither Frauen gehabt. Dutzende,
vermutlich Hunderte.
Aber das war nicht dasselbe. Andrej war ein körperlich junger
Mann in den besten Jahren. Er suchte Frauen für eine Nacht
oder die kurze Zeit, die sie das unstete Leben an einem Ort
bleiben ließ. Es waren Frauen, die aus einer Laune heraus oder
nach einem Becher Wein zuviel das Lager mit ihm teilten; oft
genug auch für Geld.
Dieses Mädchen war etwas anderes. Sie war wie er. Ein
Wesen von seiner Art. Das Blut, das in ihren Adern floss, war
dasselbe wie seines.
Und sie war jung genug, um seine Tochter sein zu können,
wenn nicht gar seine Enkelin.
Andrej verscheuchte seine Gedanken und konzentrierte sich
wieder darauf, ihr Gesicht zu reinigen. Was er sah, gefiel ihm
nicht. Die Prellungen und Brandblasen hatten bereits zu heilen
begonnen, aber längst nicht in dem Ausmaß, in dem sie hätten
heilen müssen. Außerdem fühlte er, dass sie Fieber hatte. Hohes
Fieber.
Er tauchte das Tuch noch zweimal ins Wasser, bis er mit dem
Ergebnis seiner Bemühungen so zufrieden war, wie er es unter
den gegebenen Umständen sein konnte, und warf das Stück
Stoff anschließend fort. Er hatte das Gefühl, dass es besudelt
war; als hafte etwas von dem, was man diesem Kind angetan
hatte, nun an dem Blut und Schmutz, die das Tuch
aufgenommen hatte.
Langsam hob er die Hand, zögerte noch einmal und legte sie
dann auf die Stirn des Mädchens. Sie war heiß, und er konnte
spüren, wie schnell ihr Puls ging.
Andrej schloss die Augen. Wenn er ihr doch nur helfen
könnte! Wie viele Leben hatte er genommen, auf genau diese
Art, nur durch eine Berührung mit der Hand? Warum war es so
leicht, etwas zu nehmen, und so unmöglich, auf die gleiche
Weise zu geben?
Nach einer Weile zog er die Hand wieder zurück und hob die
Lider. Der Blick des Mädchens war noch immer leer. Es hatte
mit den Lippen zu zittern begonnen, aber in seinen Augen stand
weiterhin das Entsetzen.
»Glaubst du, dass sie sich jemals wieder erholt?«
Andrej schrak leicht zusammen und sah über die Schulter
hoch. Er hatte nicht gehört, dass Abu Dun hinter ihn getreten
war, aber das überraschte ihn nicht. Trotz seiner Größe und
Massigkeit vermochte sich der ehemalige Pirat so lautlos zu
bewegen wie eine Katze.
»Ich weiß es nicht«, sagte Andrej ehrlich. »Ich weiß nicht,
was sie ihr angetan haben.«
»Ich dachte immer, außer einem Stich ins Herz oder Feuer
kann euch nichts umbringen«, sagte Abu Dun. Er grinste, aber
Andrej spürte auch, dass diese Worte bitter ernst gemeint
waren.
»Das dachte ich bisher auch.« Andrej betrachtete besorgt das
Gesicht der jungen
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