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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter
Autoren: Georg Diez
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Bett saß, ich sah es in ihrem Blick: Das will man ja in solchen Momenten, das Besondere, das sich dann nie einstellt;
     das Klärende, das es nicht geben kann und nicht geben muss; etwas Verbindendes, das in dem Moment da ist, in dem man nicht
     daran denkt.
    Sie war wütend auf Freunde, auf mich, auf sich, auf das Leben, auf die Krankheit. Dann war sie wieder dankbar, den Freunden,
     mir, dem Leben. Sie war enttäuscht von sich. Sie war zufrieden mit sich. Es konnte sich jeden Tag etwas ändern.
    Sie war wütend auf Menschen, die dachten, dass es nicht mehr lange dauern würde. Sie war ungeduldig, weilsie wusste, dass es bald vorbei sein würde. Sie wusste mehr, als sie sagte. Sie konnte nicht mehr viel sagen, ihr Atem ging
     langsam, an einem kalten, klaren Wintertag, der nicht beginnen wollte und nicht enden.
    Es dauerte nicht lang und ging auch nicht schnell. Ich schaute voraus, ich wollte wissen, wie es sein würde, wie es sein würde
     ohne sie, und wollte nicht daran denken, wie es sein würde, und dachte auch nicht daran. Ich war zwischen dem, was ich wusste,
     und dem, was ich fühlte.
    Es war das, was es war, und dann war es vorbei.
    Am Ende flachte ihre Wut ab.
    Am Ende war sie nur noch einsam.
    Und irgendwann hatte sie sich aufgegeben.
    Sie hatte entschieden, nicht mehr zu kämpfen.
    Dann ging alles sehr schnell.

    Am 30. November 2006 sah ich meine Mutter das letzte Mal. Sie lag in einem Krankenhausbett, sie hatte die Beine angewinkelt,
     ich zog die Türe hinter mir leise zu.
    Am nächsten Morgen flog ich nach Berlin zurück. Ich wollte in der nächsten Woche mit meiner Frau wiederkommen. Danach würde
     ich überlegen, wie es weitergehen könnte. Mehr Pflege, das war schon verabredet.
    Aber sonst?
    Pläne eben, gegen die Zeit, die einen überrascht.
    Ich dachte daran, mit meiner Mutter zu telefonieren, ließ es aber bleiben.

    Um halb drei Uhr am Nachmittag des 3. Dezember rief mich Doktor Koschine an. Meine Mutter hatte Fieber, sagte er, sie hatte
     schon die ganze Nacht über Fieber gehabt und war nicht ansprechbar, und es war dieses Wort, das wie ein Ballon in meinem Kopf
     saß und sich dehnte und weitete, bis erst der Kopf zu platzen schien und dann doch dieser Ballon, dieses Wort platzte: ansprechbar,
     nicht ansprechbar. Und eine Stille blieb zurück, die sich nicht mit Schmerz füllte, sondern nur still war.
    Und draußen war Schnee. Und drinnen war es warm, und drinnen war es kalt. Und ihre Angst war meine Angst, genau jetzt, genau
     in diesem Moment.
    »Was sollen wir machen?«
    Er schwieg.
    »Sie hat Fieber«, sagte er nach einer Weile, »und wenn man sie nicht behandelt, wird sie daran sterben.«
    Die Stille.
    Warum? Warum so schnell?
    »Sie meinen, wir sollen sie wieder ins Krankenhaus bringen?«
    »Ich sage nur, wenn das meine Mutter wäre, würde ich nicht wollen, dass sie leiden muss.«
    »Leidet sie?«
    »Wir müssen jedenfalls entscheiden.«
    »Ich muss jetzt entscheiden?«
    »Das wäre das Beste.«
    »Aber Sie haben doch gesagt, kein Krankenhaus.«
    »Es wäre mir auch lieber, aber mit dem Fieber.«
    Schweigen, flehentlich. Geht es vorbei?
    »Ich komme auf jeden Fall, jetzt sofort, ich nehme den nächsten Flug. Und wir werden warten, ich will sie sehen, ich will
     sie sehen, bevor ich etwas entscheide. Es kommt doch nicht auf Stunden an.«
    »Nein, es kommt nicht auf Stunden an. Es ist nachher jemand bei ihr, vom Pflegedienst, ich habe mit dem Krankenhaus gesprochen,
     die wissen Bescheid, machen Sie das, kommen Sie und entscheiden Sie dann, wie wir weiter vorgehen.«
    Aber sie war schon fort, als ich ankam.

    Im Taxi am Fluss entlang, dünner Schnee lag auf den Wiesen und hing in den Bäumen und war weiß und doch nicht, es war Winter
     und doch nicht, sie war da und doch nicht. Das Graue, das Dunkle, das Andere schimmerte hindurch, war da, würde da bleiben,
     bis der Schnee schließlich schmolz.
    Ich saß im Taxi und telefonierte.
    Mit meiner Frau.
    Mit meinem Schwiegervater, der Arzt ist.
    Doch wieder ins Krankenhaus, es musste ja sein.
    Musste es sein?
    War es falsch zu warten, falsch zu entscheiden?
    Im Taxi am Fluss entlang, und die Zeit lief, und sie lag dort in ihrem Bett, und eine fremde Frau saß an ihrem Bett, und in
     ihrem Körper raste die Hitze, wütete, tötete.
    Im Flugzeug dann Ruhe, nicht Stille.
    Die Menschen wie in einem Aquarium um mich herum, ich bin der Einzige, der nicht drinnen sitzt, sie schwimmen vorbei, ruhig,
     nicht still.
    Stille kann schrecklich
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