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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter
Autoren: Georg Diez
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paar Briefe an, die in einer Schale lagen, ich drehte ein paar Zettel um, ich sah die vielen Fotoalben, die oben
     auf einem Regal standen, Leitz-Ordner mit rotem, festem Papier, auf das meine Mutter Bilder geklebt hatte. Ich kannte die
     Bilder, von unserem gelben VW-Bus, von unserem FKK-Urlaub auf dieser jugoslawischen Insel mit dem unaussprechlichen Namen,
     von den beiden schwarz-weißen Katzen, von den Weihnachtsbäumen, von den nackten Frauen und den nackten Männern mit den Bärten,
     ihre Freunde, die in einem Baggersee badeten und voller Schlamm waren, hellem Schlamm, und ich war dabei gewesen, aber ich
     erinnerte mich nicht mehr, ich erinnerte mich nur noch an die Fotos. Ich drehte mich um, und da lag sie noch.
    Ich zog meine Jacke an, ging wieder in das Zimmer meiner Mutter, schaltete die Lampe auf ihrem Nachttisch aus. Ich schloss
     die Tür zu ihrem Zimmer, dann ging ich noch einmal zurück und machte die Tür wieder auf, damit sie nur leicht angelehnt war.
    Meine Frau stand im Gang und wartete. Ich war allein. Und war es nicht. Und war es immer gewesen.
    Ich zog die Wohnungstür ganz langsam zu, und es war gut zu wissen, dass meine Mutter noch dort lag.

    Der nächste Tag war strahlend und hell und kalt, das ist alles, was ich sicher weiß. Der Rest verschwimmt. Dieser Tag und
     der nächste, der auch strahlend und hell und kalt war, sind wie eine Stunde, wie ein Augenblick, wie angehalten, und es tauchen
     Gesichter auf und Gegenstände, aus dieser gefrorenen Zeit.
    Wir hatten Brezen gekauft, als wir vom Hotel zur Wohnung meiner Mutter gingen, für Hania und Elfi, die an diesem Morgen kamen,
     eine Papiertüte voller Brezen, die knisterte, wenn man sie in der Hand hielt. Und als diese beiden Freundinnen meiner Mutter
     dort saßen, am runden Holztisch an dem Fenster, durch das die Sonne fiel, die so heiter war und so unbeeindruckt, da war es
     schlimmer, als es vorher war, und es war besser, als ich gedacht hätte.
    Sie sprachen von ihr und auch nicht, sie fragten meine Frau nach dem Kind, das bald kommen würde, wir waren uns einig, dass
     meine Mutter es gern noch gesehen hätte, mehr als alles auf der Welt, dass sie aber genauzur richtigen Zeit gegangen war, vielleicht war das sogar Absicht, die richtige Zeit vor allem für das Kind, das kommen würde,
     weil sie ihm Raum gegeben hatte und auch uns, Raum, um Abschied zu nehmen, und Raum für das Neue, und Traurigkeit war plötzlich
     etwas, das man teilt.
    Diese Traurigkeit war etwas anderes als Trauer. Hania und Elfi gingen irgendwann in das Zimmer meiner Mutter, jede für sich,
     und ich achtete darauf, wie lange sie dort blieben, und fragte mich, was sie ihr wohl sagten. Dann kam der Maskenbildner der
     Münchner Kammerspiele, ein weißhaariger, vielleicht sogar gut aussehender Mann, mit einem freundlichen braunen Sakko und freundlichen
     braunen Cordhosen. Meine Frau hatte ihn gefunden, weil sie die Leute vom Theater kannte. Ich hatte die Idee gehabt, als ich
     am Abend zuvor allein mit meiner Mutter gewesen war, da war dieser Gedanke, ich wollte eine Totenmaske, auch wenn ich noch
     nie eine gesehen hatte, eine Totenmaske aus Bronze.
    Ich wusste nicht, woher diese Idee kam, und nun stand dieser Mann in der Wohnung und packte ein paar Plastikschüsseln aus
     und zog sich einen weißen Overall an. Meiner Mutter hätte diese Situation sehr gefallen, der Leiter der Maskenabteilung, der
     zwischen zwei Theaterproben gekommen war. Er stieg in seinen Overall und ging in die Küche und holte Wasser und fragte noch
     dies und das und verschwand dann im Zimmer meiner Mutter, und ich schaute kurz zu ihm herein, da hatte meine Mutter etwas
     Watte im Mund und etwasweißliche Creme auf der Stirn, und ich ging wieder hinaus und setzte mich zu Hania und Elfi und meiner Frau, und das Technische,
     was der Mann tat, war das Normale, und es war gut zu wissen, dass auch das etwas war, was zum Tod gehörte.
    Der Mann, ich glaube, er hieß Fischer, blieb noch kurz und erzählte, wie sehr es ihn freute, dass wir ihn angerufen hatten,
     vor 30 Jahren habe er zuletzt eine Totenmaske angefertigt, es sei ja eigentlich die Arbeit eines Bildhauers, eines Künstlers,
     er hatte viel gelesen, über Schillers und Goethes Totenmasken und die Debatten darüber, und auch Kongresse besucht, und er
     sprach schnell und ohne Scheu und Zweifel, obwohl das alles hier ein Zufall war und ganz und gar nicht erwartbar. Es war dieser
     Ton, der blieb, eine Leichtigkeit, auch nachdem er
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