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Der Teufel in Frankreich

Der Teufel in Frankreich

Titel: Der Teufel in Frankreich
Autoren: Lion Feuchtwanger
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verbringen zu müssen.
    Weiter war da ein Herr von mittleren Jahren, klein, dicklich, lustig, schlau und gefällig, ein seit vielen Jahren in Marseille ansässiger Kinobesitzer, der in weißen, immer unsagbar dreckigen Pyjamahosen herumlief, eine Zipfelhaube auf dem rundlichen Kopf und, gegen die ausdrückliche Hausordnung, einen kleinen Hund an einer Leine mit sich führend. Die Wachsoldaten und Sergeanten hatten alle den lustigen Mann gerne, und er schmierte sie, so daß sie seinen Hund duldeten. Der Hund schlief bei ihm im Stroh, manchmal kläffte er, dann bemühten sich alle, ihn um Gottes willen zum Schweigen zu bringen. Kam ein Offizier in die Nähe, so riefen zwanzig Stimmen, Wachen und Internierte: »Weinberg, Ihr Hund, den Hund verstecken«, der Hund wurde beflissen bedeckt und versteckt, und die Offiziere trachteten, ihn zu übersehen.
    Die weitaus meisten Menschen, die im Lager um mich waren, hätte ich unter andern Umständen niemals kennengelernt. Wenn sie mir untergekommen wären, hätte ich sie übersehen oder gleich wieder vergessen. Jetzt zwang mich der Ort und die Gemeinsamkeit unserer Bedingungen, mich mit ihnen abzugeben. Ein jeder verspürte den Drang, sich auszusprechen, von seinem Wesen und seinem Schicksal zu erzählen, von seinen Hoffnungen und Befürchtungen, sich Rat zu holen. Nun habe ich aber während meiner sechsundfünfzig Jahre mit Tausenden von Menschen jeder Art und jeder sozialen Lage zu tun gehabt, ich bin nicht mehr neugierig auf Menschen, und am schwersten erträglich im Lager war mir, daß man niemals mit sich allein sein konnte, daß immer, Tag und Nacht, bei jeder Verrichtung, beim Essen und beim Schlafen und bei der Entleerung, hundert Menschen um einen waren, schwat zende, lachende, schreiende, seufzende, weinende, fressende, schmatzende, schnarchende, furzende, stinkende, schwitzende, sich säubernde Menschen. Ja, jede Verrichtung geschah in der größten Öffentlichkeit, und selbstverständlich spürte keiner die geringste Scham vor dem andern.
    Doch so heiß ich mir manchmal wünschte, die Menschen ringsum los zu sein, es ist mir gleichwohl nicht leid, daß diese neue Fülle von Gesichtern auf mich eindrang. Ich habe wieder einmal und sehr tief erlebt, wie verschieden von den andern, wie einzigartig jedes menschliche Gesicht ist, auch das glatteste, wie einzigartig jede menschliche Verrichtung.

    Von den Menschen meiner unmittelbaren Nachbarschaft erwähne ich noch einen schmächtigen, bärtigen, orthodoxen Rabbiner, der viel betete, mit Gebetmantel und Gebetriemen angetan, sich so gut wie möglich innerhalb des Lattenwerkes versteckend, damit er nicht gesehen werde.
    Es gab eine ganze Reihe orthodoxer Juden in Les Milles, sie hielten streng ihre Bräuche und benahmen sich dabei sehr unauffällig. Für ihre Gottesdienste ließen sie sich von der Lagerleitung Plätze anweisen, wo sie die andern nicht störten. Übrigens waren da die Franzosen sehr entgegenkommend. Während meines ersten Aufenthalts hatte ich im Lager den höchsten jüdischen Feiertag miterlebt, den Jom Kippur, den Versöhnungstag. Da hatten die orthodoxen Juden mit Erlaubnis der Lagerleitung aus den zerbröckelnden Ziegeln eine Art Synagoge errichtet, einen Altar, den »Almemor«, einen Schrein für die Thora-Rollen, auch eine Art Betpult für den Kantor. Als der lange Tag zu Ende war und die Ziegel wieder weggeschafft werden sollten, hatten sich ein paar einen Spaß gemacht, sie waren zu einer Gruppe von Internierten gegangen, von denen man annahm, sie bestehe aus Nazis, und hatten geru fen: »Antisemiten gesucht zur Zerstörung des Tempels.«
    Der schmächtige orthodoxe Rabbiner, von dem ich eben sprach, ein stiller, unscheinbarer Herr, hatte zu seinem Unglück einen unangenehmen Nachbarn im Stroh, einen älteren Menschen mit einem schauspielerhaften Gesicht, der es liebte, Tierstimmen nachzuahmen. Sowie des Morgens um fünf ein halb Uhr das Wecksignal ertönte, kam auch sein kräftiges Kikeriki, und wo immer man stand, lag oder hockte, hörte man das Muhen einer Kuh, das Gebell eines Hundes, das Gewieher eines Pferdes oder den Schlag einer Nachtigall, und in der Nähe ging der Mann mit dem schauspielerhaften Gesicht vorbei mit unbeteiligter Miene, sich seines guten Spaßes innig freuend. Auf den Rabbiner, seinen Nachbarn, hatte er es aus irgendeinem Grunde abgesehen. Er quälte den Armen bitter; nicht nur muhte und wieherte er ihm immerzu ins Ohr, er knuffte und prügelte ihn auch, und oft mußten die
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