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Der Tee der drei alten Damen

Der Tee der drei alten Damen

Titel: Der Tee der drei alten Damen
Autoren: Friedrich Glauser
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wurden. Es wurde viel Tee getrunken, aber ich habe nur eine Tasse getrunken, ganz zum Schluß. Ich wollte die Wirkung selbst ausprobieren. Nun, sie war merkwürdig genug. Plötzlich konnte ich fliegen, ich flog durch die Luft…«
    »Obenauß und nirgent an…« murmelte O'Key.
    »Wie?«
    »Nichts, nichts«, sagte O'Key. »Erzähl nur weiter!«
    »Ja, ich flog also, es war ein richtiger Flugtraum, und sicher hatte der Tee daran Schuld. Einmal wachte ich halb auf, weil ich einen schmerzhaften Stich fühlte. Die alte Pochon machte sich mit meinem Arm zu schaffen. Aber ich war zu müde, um mich zu wehren. Es roch stark nach Weihrauch. Dann hörte ich Ronny bellen, aber ich dachte, es sei nur ein Traum.«
    »Nein, Ronny und ich, wir standen vor der Türe. Aber es war so still in dem Haus, alles war verschlossen. Wie hätte ich denken können, daß eine Versammlung darin tagte?«
    »So, kennst du das Haus?«
    »Du etwa nicht?«
    »Nein. Denn der Wagen, der mich hinführte, hatte Milchglasscheiben, ich konnte nichts sehen. Und bevor ich einstieg, mußte ich einen Kapuzenmantel anlegen, der mir das Gesicht verhüllte. Er war aus leichtem Stoff, so daß ich gut atmen konnte, trotzdem die Kapuze um meinen Hals zugebunden wurde. – Ja, ich will weiter von der Sitzung erzählen. Zuerst war ich nur mit den drei alten Damen zusammen. Später, am Abend, kamen die andern Leute. Die waren auch in lange, gelbe Schleier gehüllt, aber diese waren nicht geöffnet, wie bei den alten Damen, sondern bedeckten das ganze Gesicht. Auch ihnen wurde Tee gereicht. Aber es muß eine andere Sorte Tee gewesen sein. Denn einer nach dem andern begannen sie zu halluzinieren, die alte Pochon saß in einer Ecke und murmelte über ihrer Münze, das schien ihre einzige Beschäftigung zu sein.«
    »Wurde von Geld gesprochen?«
    »Natürlich. Die eine der drei alten Damen…«
    »Wie sah sie aus?«
    »Lang, sehr lang. Und unter ihrem Schleier trug sie ein violettes Kleid…«
    »Frau de Morsier…« murmelte O'Key.
    »Die Frau des Staatsanwalts?«
    »Ja. War die Kollekte ergiebig?«
    »Sehr. Wenn einer nicht zahlen wollte, sagte die dürre Frau: ›Gedenkt Euerer Verfehlungen. Sollen wir deine Sünden verkünden? Wir haben viele Briefe. Sollen wir die Briefe verlesen?‹ – ›Nein!‹ heulten sie dann. Sie tranken wieder Tee, die Leute, ein Salbenbüchslein wurde herumgereicht, damit salbten sie sich die Arme und die Achselhöhlen. Und dann sagte plötzlich die Dichterin zu mir: ›Jetzt müssen Sie schreiben, alles schreiben, was Sie hören!‹ Mir brummte der Kopf. Der linke Arm tat mir weh, dort wo ich gestochen worden war. Aber ich schrieb. Die Gelbgekleideten saßen an den Wänden; jetzt traten sie vor, einer nach dem andern und erzählten, was sie sahen, was sie hörten, was sie fühlten. Es war schauerlich interessant. Ich notierte, notierte. Plötzlich schrillte eine Klingel. Alles verstummte. Da ertönte eine Stimme – weißt du, ich habe gleich gemerkt, was es war, einfach ein Lautsprecher, der an die Telephonleitung angeschlossen war, – und immer noch höre ich die Worte, die die Stimme sprach:
    ›Ich habe strafen müssen‹, sagte die Stimme, ›ich habe die Neugier bestrafen müssen. Merkt es euch. Niemand darf den Meister erkennen. Ich bin der Urgrund und das Schweigen. Denkt an das Schicksal der Sophia, die verstoßen wurde aus der Fülle, weil sie den Urgrund erkennen wollte. So verstoße auch ich in die Leere den Unverständigen, der mein heiliges Geheimnis erkunden will. Weh ihm, weh ihm!‹ Dann schwieg die Stimme…«
    »Mein Gott!« O'Key lachte schallend, hielt plötzlich inne, wurde wieder ernst. »Ich sollte nicht lachen. Komisch ist ja einzig diese Wiederholung gnostischer Sagen. Nicht einmal etwas Neues hat dieser ›Meister‹ erfinden können. Natürlich ist diese ganze Mystik nur Vorwand. Dem Mann ist's um Geld zu tun. Weißt du übrigens, wo Thévenoz sterbend aufgefunden worden ist? In der Villa der Gebrüder Rosenbaum. Merkwürdig, nicht? Und er ist sicher nicht weit gelaufen. Schade, daß ich mich gestern nicht der Fortschaffung der Leiche widersetzt habe. So muß ich die Lösung alleine finden. Ich komme heut abend nicht in die Sitzung, ich habe anderes zu tun. Leb wohl.«
    Madge wollte aufspringen, aber O'Key stand schon unter der Tür, winkte mit der Hand…

11
    Jakob, der Gymnasiast, hatte sich von Maman Angèle trösten lassen. Dann war er aufgestanden, hatte sich nach der Zeit erkundigt. Es war elf Uhr. Er
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