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Der Talisman (German Edition)

Der Talisman (German Edition)

Titel: Der Talisman (German Edition)
Autoren: Elisabeth von Bismarck
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selbst: »Ich kann, ich kann, ich kann.« Und machte sich wieder auf den Weg. Schon seit Tagen war der Junge keinem Menschen mehr begegnet. Gegen Mittag erreichte Yasha eine lange, schmale Hängebrücke, die über eine tiefe Schlucht führte. Einige Trittholzbretter waren zerbrochen, andere sahen morsch aus. Diese Brücke musste schon sehr alt sein. Vorsichtig spähte Yasha vom Rand der Schlucht in die Tiefe – vielleicht gab es noch einen anderen Weg, um auf die andere Seite zu gelangen? Weit unten brodelte ein breiter Fluss. Der Junge bekam es mit der Angst zu tun. Plötzlich entdeckte Yasha auf der gegenüberliegenden Seite der Hängebrücke einen Mann mit seinem Lasttier, einem Yak. Yaks sind eine Art Rinder mit zotteligem Fell, wegen ihrer grunzenden Laute werden sie auch tibetische Grunzochsen genannt. Ohne zu zögern führte der Mann sein schwer beladenes Tier auf die schwankende Hängebrücke.
    Es dauerte eine Weile, bis die beiden Yasha erreicht hatten. Forschend musterte der Mann den Jungen. »Du hast Angst, aber du darfst Vertrauen haben. Die guten Geister werden dich beschützen.« Mit diesen Worten zog der Fremde ein weißes Tuch von seinem Hals und wickelte es um ein Tau an der Brücke. »Was bedeutet das?«, fragte Yasha erstaunt. »Das ist die weiße Khata. Dieser Schal ist bei uns in Tibet ein Symbol für Gesundheit. Und die wünsche ich dir auf deinem Weg!«, erwiderte der Fremde. Yasha war gerührt und dankbar für die Güte und Freundlichkeit des Fremden. Er sah ihm und dem zotteligen Yak hinterher, bis die beiden zwischen den Felsen verschwunden waren. Dann nahm Yasha all seinen Mut zusammen, strich mit der Hand andächtig über das weiße Tuch, murmelte »Ich kann, ich kann, ich kann« und betrat mit zitternden Knien die Hängebrücke.
    Yasha ließ die
    hohen Berge Tibets
    hinter sich und durchquerte Nepal. Die Landschaft wurde immer grüner. Der Junge wanderte durch blühende Rhododendronwälder und erreichte schließlich die Teeplantagen im Norden Indiens. Überall fragte Yasha nach Kapilavastu – aber kein Mensch hatte je von diesem Ort gehört.



Ein eiskalter Wind fuhr durch die trockenen Blätter der Bäume. Bald würde es Winter werden im ungarischen Halbdunkelwald. Fröstelnd zog die finstere Gestalt den wehenden Umhang dichter zusammen und eilte hastig weiter. Die drei schwarzen Schmetterlinge hatten Mühe, sich auf seiner Schulter festzuhalten.
    Vor einigen Tagen hatte der Schwarzmagier seine Schwester besucht und sie gebeten, ihm zu erlauben, die kalte Quelle der Zeit zu besuchen. Da hatte die dunkle Seherin laut gelacht: »Das tut dir nicht gut, Olav. Hast du die schrecklichen Schmerzen vergessen, die du immer vom Sehen bekommst? Aber tu es ruhig, wenn es so wichtig für dich ist.« Wie immer überlegte der Schwarzmagier, ob seine Schwester sich gerade über ihn lustig machte oder sich um ihn sorgte. Er konnte die dunkle Seherin einfach nicht einschätzen, und das ärgerte ihn ganz gewaltig.
    Während Olav Zürban
    durch den
    Halbdunkelwald lief, überlegte er, ob er auch wirklich alles dabeihatte. Den Wexelstaub, um den Ort oder sein Aussehen zu wechseln, die Salbe aus der Heilpflanze Augentrost, das Schwindibus-Pulver und die vielen anderen Zaubermittelchen … ja, er hatte alles in seinem Lederbeutel, der am Gürtel hing.
    Endlich erreichte der Schwarzmagier die kalte Quelle der Zeit. Das klare Wasser rann aus den Felsen herab in ein uraltes, eingefasstes Steinbecken. Dicke Moospolster ließen das Wasser smaragdgrün schimmern. Mit einem schnellen Ruck riss sich Olav Zürban sein braunes Auge aus, es tat höllisch weh. Ungeduldig wartete er ab, bis der Schmerz nachließ, neigte seinen Kopf über das Steinbecken und senkte die Hand mit seinem Auge in die Quelle. Augenblicklich trübte sich das Wasser. Bald würden die Bilder kommen und ihm zeigen, wo sich der Junge aufhielt.
    Die Sonne
    brannte unbarmherzig
    auf Yasha herab. Er hatte die Großebene Nordindiens erreicht. Die Luft flimmerte vor Hitze. Seine Füße taten sehr weh. Verschwitzt und müde beschloss der Junge, sich eine Unterkunft in einem Aschram zu suchen. Aschram, das heißt »Ort der Anstrengung«, so werden in Indien klosterähnliche Meditationszentren genannt. Neben einer warmen Mahlzeit und einem Platz für die Nacht hoffte Yasha, einen Hinweis auf den geheimnisvollen Ort Kapilavastu zu bekommen. So eilte er zuversichtlich und fröhlich auf das weiße Gebäude des Aschrams zu, das er bereits in weiter Ferne
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