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Der Talisman (German Edition)

Der Talisman (German Edition)

Titel: Der Talisman (German Edition)
Autoren: Elisabeth von Bismarck
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flogen auf das Licht zu und landeten schließlich sanft auf dem felsigen Platz vor einem ärmlichen Häuschen. Beim Anblick des alten Lamas und der drei Mönche verbeugten sich ein Mann und eine Frau, die schon auf sie gewartet hatten. Sie baten die Ankömmlinge, hereinzukommen. Yasha blickte in zwei sorgenvolle Gesichter. Die von Wind und Wetter gezeichnete zerfurchte Haut machte es schwer, das Alter des Paares zu schätzen. Es waren einfache Bauern. Die vielen Schichten ihrer langen wattierten Mäntel ließen die beiden ein wenig unförmig erscheinen. Die Frau neigte den Kopf, vielleicht damit niemand sehen konnte, dass sie weinte. Die beiden waren sehr unglücklich, erkannte Yasha.
    Der Junge zog den Kopf ein, um sich nicht an der niedrigen Tür zu stoßen. Kleine Öllampen tauchten den verrauchten Raum in mattes Licht. Das Feuer zum Kochen und Heizen brannte mitten im Zimmer. Rauch sammelte sich an der Decke und hatte die Holzbalken geschwärzt, denn Schornsteine kennt man in Tibet nicht. Yashas Augen begannen zu brennen und tränten fürchterlich. Verschwommen sah er das Kind vor sich. Es war höchstens fünf Jahre alt und um seinen Kopf leuchtete ein Licht so hell und so warm wie die Sonne. Etwas Ähnliches hatte Yasha in der Kirche zuhause auf frommen Bildern gesehen, da war so ein Schein um die Köpfe von Heiligen gemalt worden. War das die kleine Reinkarnation, die Wiedergeburt ihres geliebten verstorbenen Lamas, nach der seine Begleiter schon so lange suchten?
    Freundlich nickten
    die Mönche
    dem Kind zu und baten es, sich neben den großen Lama zu setzen. Der alte Lama stellte fünf Schalen vor das Kind. Zielsicher griff der Kleine nach einer der Schalen, sie hatte dem letzten Lama gehört. Dann warf der alte Lama fünf würfelähnliche Steine auf den Boden. Das Kind hob einen der Steine auf. Es war der einzige, der in die leere Fassung des Rings passte, den der alte Lama aus einer Schatulle nahm. Das war der Ring des verstorbenen Lamas gewesen. Dann wurden uralte Bücher herausgeholt und das Kind konnte alles lesen und verstehen, was darin stand. Die Prüfung der Zeichen dauerte unendlich lange. Und da sich im Moment niemand für Yasha interessierte, dachte er über seine Abenteuer auf dem Mount Everest nach. Als er schließlich zur Einsicht gelangte, dass er mit dem Zauberspruch »Ich kann, ich kann, ich kann« unglaubliche Dinge schaffen konnte, schlief er beruhigt ein.
    Das Weinen der Mutter des kleinen Jungen weckte Yasha auf. Sie wusste nun, dass ihr Kind eine heilige Reinkarnation war. Die Mönche würden ihren einzigen Sohn nach Lhasa, in die heilige Hauptstadt von Tibet, mitnehmen, um ihn dort auszubilden. Als Erwachsener würde er in Lhasa seine göttliche Rolle als hoher Lama ausüben. »Die armen Eltern und der arme Kleine, sie werden getrennt!«, flüsterte Yasha erschüttert. »Ja!«, antwortete Mönch Tashi. »Aber sie werden auch stolz darauf sein, Eltern einer Reinkarnation zu sein, und sie können ihren Sohn später im Palast besuchen. Aber am Anfang wird es schwer für sie. Wenn du willst, bleib doch eine Weile bei ihnen. Du bist ein guter Mensch, Yasha, und du kannst sie bestimmt trösten!«
    Als Yasha
    sich von dem
    alten Lama, den drei Mönchen und der kleinen Reinkarnation verabschiedete, schaute ihn das Kind lange an. Dann schrieb es auf die Erde: Kapilavastu. Verwundert schaute Yasha auf das Wort. Mönch Tashi flüsterte ihm zu: »Nach diesem Ort musst du suchen! Vielleicht befinden sich deine Eltern in Kapilavastu.«
    Yasha blieb lange bei den lieben, bescheidenen Bergbauern und lernte vieles über das Leben in Tibet. Dieses raue Land wird auch das »Dach der Welt« genannt, weil es so hoch liegt. Yasha fühlte sich hier wohl, aber Kapilavastu ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er sehnte sich danach, die Suche nach seinen Eltern fortzusetzen. Als er Abschied nehmen wollte, weinte die Mutter der kleinen Heiligkeit so sehr, dass Yasha es nicht übers Herz brachte, die arme Frau zu verlassen. Er nahm seinen Talisman ganz fest in die Hand und sagte: »Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche, dass sie noch einen Sohn bekommt!« Das schien dem Talisman sehr zu gefallen, denn er leuchtete wie ein Stern und verbrannte Yasha fast die Hand.
    Nachdem die Mutter der kleinen Reinkarnation ihren zweiten Sohn bekommen hatte, verließ Yasha das Bergdorf Tshanar. Zum Abschied legten die Dorfbewohner dem Jungen allerlei merkwürdige Ketten um – es waren Amulette gegen das böse Auge. Die Mutter
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