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Der Tag mit Tiger - Roman

Der Tag mit Tiger - Roman

Titel: Der Tag mit Tiger - Roman
Autoren: Aufbau
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Bedürfnisse regelte er gewöhnlich außerhalb. Hin und wieder ging er ihr schnurrend um die Beine und ließ sich auch ganz gerne von ihr streicheln.
    Anne war häufig unterwegs. Obwohl sie eigentlich eine geregelte Arbeitszeit hatte, musste sie doch oft für einen dringenden oder eiligen Auftrag mit ihrem Team länger im Büro arbeiten. Deshalb blieb Tiger auch tagsüber alleine in der Wohnung. Ein-, zweimal, als Anne zu lange fortgeblieben war, äußerte er seinen Verdruss darüber durch einen feuchtenFlecken mitten auf dem Wohnzimmerteppich. Wenn das geschehen war, huschte er jedes Mal bei ihrer Heimkehr mit sichtbar schlechtem Gewissen an ihren Beinen vorbei nach draußen. Darum schmunzelte Anne über das Missgeschick und nahm es ihm nicht besonders übel. Und als es sich nach ein paar Monaten endgültig abzeichnete, dass Tiger sie adoptiert hatte, begann sie sich bei anderen Katzenhaltern nach Lebensweise und Pflege zu erkundigen und ließ sich einen Tierarzt empfehlen. Sie lieh sich einen Transportkorb aus, vereinbarte einen Untersuchungstermin und nahm das schwierige Unterfangen in Angriff, Tiger dazu zu überreden, sich im Korb ins Auto verfrachten zu lassen. Wie sich zeigte, war mit freiwilliger Zusammenarbeit nicht zu rechnen. Auch Überredungskunststückchen mit dem Lieblingsfutter in der hinteren Korbecke fruchteten nichts. Schließlich musste Anne den zornig fauchenden Kater vom Kleiderschrank holen, wobei sie wohlweislich Handschuhe angezogen hatte. Er gab seinem Missfallen über diese Behandlung dann im Auto durch einen buchstäblichen Anschiss Ausdruck. Sie erreichten den Tierarzt trotz winterlicher Kälte mit geöffneten Fenstern.
    Dr. Wendel untersuchte Tiger gründlich, erklärte ihn für außerordentlich gesund, kastriert und etwa fünf Jahre alt. Dann verabreichte er dem schmollenden Kater die notwendigen Impfungen.
    Anschließend war Tiger drei Tage beleidigt.
    Er ließ sich von Anne weder anfassen noch streicheln. Wenn sie mit ihm sprach, drehte er sich weg und nahm, wie sie ihm vorwarf, eine »Muffhaltung« an. Doch nach einiger Zeit verblasste wohl die Erinnerung an diese brutale Einmischung in seine Privatsphäre, und er zeigte sich wieder zugänglich. Sehrzärtlich und verschmust wurde er zwar nie, was wohl an seiner Art lag, aber er bevorzugte offensichtlich die menschliche Gesellschaft. Das zeigte er Anne, indem er ihr immer hinterher geschlichen kam, wenn sie in ihrer Wohnung für längere Zeit den Raum verließ, in dem sie sich gemeinsam aufgehalten hatten. Dennoch hielt er immer einige Meter Distanz. Nur einmal, als Anne mit einer heftigen Erkältung das Bett hüten musste, gab er dieses Fernhalten auf und sprang zu ihr auf das Kopfkissen. Dort blieb er liegen – bis auf die wenigen Stunden, die er für seine eigenen Angelegenheiten benötigte. Ansonsten schnurrte er ihr in ihrem fieberheißen Schlaf etwas vor.
    Das war der eigentliche Beginn einer großen Zuneigung.
    Langsam sank die Dämmerung nieder, und der Abendwind bauschte die Gardine vor der Schiebetür zur Terrasse. Erschöpft von der Aufregung und der Trauer rollte Anne sich schließlich auf ihrem Teil des Sofas zusammen, legte die Arme um den verletzten Tiger und bettete ihren Kopf an seine Seite. Kurz darauf war sie fest eingeschlafen.

Ein erstaunliches Erwachen
    Anne erwachte, als sie die Kirchturmuhr drei Mal schlagen hörte. Obwohl es dunkle Nacht war, nahm sie ihre Umgebung erstaunlich deutlich wahr. Doch als sie ihren Kopf hob, blieb ihr vor Entsetzen fast das Herz stehen. Sie blickte in die grün funkelnden Augen einer mannsgroßen Katze!
    Und nicht nur das! Diese Katze hatte auch ein mörderisches Gebiss, das sie ihr zeigte, als sie das Maul zu einem gewaltigenGähnen aufriss. Dann richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf und machte einen Buckel. Ein seltsamer Laut der Panik entfuhr Annes Lippen, als sie zu dem Untier hochblickte.
    »Willst du die ganze Nacht hier liegen bleiben, du faule Nuss? Los, beweg dich!«
    Anne war inzwischen vollkommen verdattert – es verwunderte sie nicht einmal mehr, dass dieses Tier sie auch noch ansprach. Sie schaute es nur hilflos an.
    »Auf die Pfoten, wird’s bald!«
    »Wa…wa… was heißt hier Pfoten?«, brachte sie endlich in zornigem Ton hervor.
    »Na, da schau dich doch nur an, du rattenschwänziges Fellbündel.«
    Genau das tat Anne dann auch. Was sie sah, raubte ihr den Atem.
    Sie war zwar mit ihren dunklen, kurz geschnittenen Haaren vertraut; neu hingegen war ihr,
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