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Der Tag mit Tiger - Roman

Der Tag mit Tiger - Roman

Titel: Der Tag mit Tiger - Roman
Autoren: Aufbau
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diese Haare, mit grauen Streifen durchsetzt, am ganzen Körper zu finden. Ebenso neu war ihr der Anblick ihrer Fingernägel, ein ewiges Problem des Abbrechens und Splitterns. Das war augenscheinlich vorbei. Beim Spreizen der rechten Hand erschienen fünf saubere, scharfe Krallen. Und was hieß hier überhaupt Hand? Tatze war der richtige Ausdruck dafür.
    »Ich glaube, ich bin eine Katze«, murmelte sie fassungslos.
    »Klar, und für dieses Glück solltest du ganz einfach dankbar sein. Nicht jedem ist die Chance vergönnt, einmal im Leben zu den höheren Wesen zu gehören.«
    Anne wusste nicht, ob sie das als Trost werten sollte. Im Grunde ihres Wesens war sie jedoch eine Frau von praktischerVeranlagung, die sich normalerweise überall leicht zurechtfand. In einer aussichtslosen Situation pflegte sie keine unnötige Energie mit Jammern und Nörgeln zu verschwenden, sondern sie akzeptierte sie stattdessen und versuchte, möglichst das Beste daraus zu machen. Es blieb ihr auch jetzt nichts anderes übrig. Der grobe Anpfiff und die ungerechten Beleidigungen ihrer Katze taten das ihre, um sie aus ihrer Bestürzung zu befreien. Widerspruch regte sich in ihr, und sie starrte dem bedrohlichen Riesenkater fest in die Augen.
    »Okay, Tiger, so schön wie du bin ich nicht, aber rattenschwänzig brauchst du mich deshalb noch lange nicht zu nennen«, versetzte sie mit mühsam wieder errungener Würde.
    »In Ordnung«, gab er zu und befahl dann: »Aber jetzt steh endlich auf!«
    Das war leichter gesagt als getan. Sich auf die Vorderpfoten aufstützen ging ja noch, aber wie dann weiter? Als Mensch wäre sie jetzt auf die Knie gegangen, doch wo waren die Knie? Mit einem Plumps lag sie wieder auf der Seite und musste sich einen mitleidigen Blick gefallen lassen.
    »Heb deinen Hintern hoch und stell dich auf die Pfoten«, war die liebenswürdige Unterstützung. Immerhin stand Anne gleich darauf wackelig auf ihren vier Beinen und sah ihn erfreut über ihre Leistung an. Aber dieser Erfolg wurde ihr nicht lange gegönnt.
    »So, und jetzt runter vom Sofa!«
    Mit einer fließenden Bewegung sprang Tiger nach unten. Anne schaute ihm nach. Für ihre gewohnten menschlichen Proportionen stand sie auf allen vieren etwa in eigener Körperhöhe über dem Teppich und sollte jetzt – Kopf voran – auf den harten Boden springen. Um sich nicht schon wieder einenverächtlichen Kommentar einzufangen, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und stieß sich mit aller Kraft ab.
    Sie hatte sich bislang eingebildet, durch ihre vielfältigen sportlichen Aktivitäten recht gut trainiert zu sein, doch mit der Wirkung ihrer veränderten Muskulatur hatte sie nicht gerechnet. Mit einem mächtigen Satz flog sie durch das halbe Wohnzimmer, wurde abrupt von einer Schranktür gebremst, überkugelte sich rückwärts und blieb leicht benommen liegen.
    »Du liebe Zeit! Was wolltest du mir denn damit beweisen?«, pflaumte Tiger sie an.
    Anne schüttelte sich leicht, kam diesmal schon etwas eleganter auf die Pfoten und schaute den Kater an.
    »Ich hab’s mir schon immer gedacht, Katzen können grinsen«, stellte sie lakonisch fest.
    »Natürlich. Meine Güte, dir die simpelsten Bewegungsformen beizubringen ist schlimmer, als ein blindes Kätzchen auf die Beine zu stellen. Jetzt springst du noch mal auf das Sofa und wieder runter. Aber mit halber Kraft, wenn ich bitten darf.«
    Anne musterte die Sitzfläche. Aus ihrer jetzigen Position war sie etwas über kopfhoch. Ihrer Sprungkraft traute sie nicht, darum legte sie die rechte Pfote auf die Kante. Sie versuchte sich festzuhalten, um sich hinaufzuziehen. Ein langer Faden ribbelte sich aus dem Bezug. Tiger beobachtete das und sagte zu niemand Bestimmtem im Raum: »Menschen mögen das gar nicht gerne, wenn Katzen die Bezüge zerkratzen.«
    »Grrrrr!«
    »Ah, gut, dieser Laut war schon fast kätzisch. So, und jetzt spring! Vokabeln lernen wir nachher.«
    Anne setzte sich auf den Hinterpfoten vor dem Sofa zurecht und gab sich einen winzigen Abstoß nach oben. Diesmal landetesie auf dem Sofakissen. Allerdings war der Aufprall zu heftig, und sie stieß mit der Nase an die Rückenlehne. Immerhin aber war sie mit allen vier Pfoten oben. Das stärkte ihr Selbstbewusstsein, und der Abstieg wurde professioneller, er war jedoch noch weit davon entfernt, elegant zu sein. Erst nach einigen weiteren Sprungversuchen hatte Anne ein gewisses Körpergefühl entwickelt und bewegte sich sicherer. Was sie am meisten störte, war das verlängerte
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