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Der Tag der Ameisen

Der Tag der Ameisen

Titel: Der Tag der Ameisen
Autoren: Bernard Werber
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er die Beruhigungsmittel abgelehnt, die seine Frau ihm angeboten hatte.
    Jetzt standen Jacques Méliès, Laetitia Wells und Juliette Ramirez um ihn herum, über den winzigen improvisierten Operationstisch gebeugt, den der Meister der Heinzelmännchen unter einem Mikroskop eingerichtet hatte. Dieses war an eine Videokamera angeschlossen. Alle konnten der Operation an einem Bildschirm folgen.
    Über diesen Tisch waren schon viele reparaturbedürftige Roboterameisen gegangen, doch nun war es zum erstenmal eine Ameise aus Chitin und Blut in lebensbedrohlichem Zustand.
    »Blut!«
    »Noch mehr Blut!«
    Da sie Nr. 103 retten wollten, hatten sie vier echte Ameisen zerquetschen müssen, um das für die Transfusion nötige Blut zu gewinnen. Sie hatten keine Sekunde gezögert. Nr. 103 war einzigartig und verdiente das Opfer einiger Exemplare ihrer Art.
    Für diese Minitransfusionen hatte Arthur eine mikros-kopische Nadel zugespitzt und sie in den weichen Teil des linken Hinterbeingelenks gestochen.
    Der Stegreif-Chirurg wußte nicht, ob die Ameise unter seinen Handgriffen litt, aber angesichts ihres prekären Zustands hatte er lieber auf eine Anästhesie verzichtet.
    Arthur fing damit an, daß er das Mittelbein wieder einrenkte.
    Auch beim linken Vorderbein ging es problemlos. Durch seine Arbeit an den Roboterameisen hatte er sich eine große Fingerfertigkeit erworben.
    Der Brustkorb war platt gedrückt. Mit einer feinen Pinzette bog er ihn wieder in Form, wie man es bei einem eingedellten Kotflügel macht, dann verklebte er die Stelle, wo das Chitin aufgeplatzt war, mit Leim. Dieser Leim diente ihm auch dazu, den durchbohrten Hinterleib wieder zusammenzuflicken, nachdem er ihn vorher mittels einer winzigen Pipette voll Blut gepumpt hatte.
    »Zum Glück sind der Kopf und die Antennen unversehrt!«
    rief er. »Die Spitze Ihres Absatzes war so schmal, daß nur der Thorax und der Hinterleib zerquetscht wurden.«
     
    Unter dem Licht der Mikroskoplampe findet Nr. 103 wieder zu Kräften. Sie streckt den Kopf ein wenig und nuckelt langsam an dem Honigtropfen, den ihr ein Finger vor die Kieferscheren gelegt hat.
     
    Arthur richtete sich auf, wischte sich den Schweiß von der Stirn und seufzte: »Ich glaube, sie ist über den Berg. Jetzt braucht sie aber ein paar Tage Ruhe, bis sie wieder ganz auf den Beinen ist. Legt sie in eine dunkle, warme und feuchte Ecke.«
     
     

210. ENZYKLOPÄDIE
     
    WIE SIEHT DER WEG AUS? Wir müssen uns den Menschen des Jahres Hundertmillionen vorstellen (der dann soviel Erfahrung hat wie die Ameisen heutzutage).
    Dieser Mensch muß ein Bewußtsein haben, das hundert-tausendmal entwickelter ist als das unsere. Unserem Ur-hoch-100 000-Enkel muß geholfen werden. Darum müssen wir den goldenen Weg finden. Den Weg, der es gestattet, mit unnötigen Formalismen möglichst wenig Zeit zu verlieren. Den Weg, der einen Rückschritt unter dem Druck sämtlicher Reaktionäre, Barbaren und Tyrannen verhindert. Wir müssen das Tao finden, den Weg, der zum höchsten Bewußtsein führt. Dieser Weg wird sich durch die Vielzahl unserer Erfahrungen bahnen.
    Um ihn leichter zu finden, müssen wir unsere Blickwinkel verändern, dürfen wir uns nicht auf eine Denkweise versteifen, gleich auf welche. Selbst wenn sie richtig ist. Die Ameisen weisen uns ein geistiges Experiment: sich an ihre Stelle zu versetzen. Versetzen wir uns aber auch an die Stelle der Bäume, der Fische, der Wellen, der Wolken, der Steine.
    Der Mensch des Jahres Hundertmillionen wird mit den Bergen sprechen können müssen, um aus ihrer Erinnerung zu schöpfen. Sonst war alles vergebens.
    Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 2

211. DAS LOCH
    Drei Tage Genesung, und Nr. 103 war von ihren Quetschungen wieder vollkommen hergestellt. Sie aß fast normal – sogar Häppchen Heuschreckenfleisch und Getreidebrei. Sie bewegte ihre beiden Antennen normal. Sie leckte sich ununterbrochen ihre Wunden, um den Leim abzubekommen und um sie außerdem mit ihrem Speichel zu desinfizieren.
    Arthur Ramirez hatte seine Patientin in eine Pappschachtel verlegt, die mit wasserfreundlicher Baumwolle ausgelegt war, damit jede Erschütterung vermieden wurde. Täglich zeichnete er die jeweiligen Fortschritte auf. Das gebrochene Bein funktionierte nicht besonders gut, aber Nr. 103 glich das dadurch aus, daß sie das Hüftgelenk verschob.
    »Sie braucht eine Art Krankengymnastik, damit ihre fünf Beine wieder Muskeln ansetzen«, meinte Jacques
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