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Der sueße Kuss der Luege

Der sueße Kuss der Luege

Titel: Der sueße Kuss der Luege
Autoren: Beatrix Gurian
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Bambusprinzessin
    Als die Erde noch jung war, lebte ein ältliches Ehepaar nahe bei einem Bambuswäldchen in einer stillen Einsamkeit. Ihr Holzhäuschen lag dicht am Ufer eines rasch fließenden Stroms, dessen gebirgige Ufer auf beiden Seiten ziemlich steil und mit schlanken Fichten bewachsen waren. Es gab dort ringsum keine Felder, aber es gab das Bambuswäldchen und von diesem bezogen der Mann und seine Frau ihr regelmäßiges Auskommen.
    Er pflegte Tag für Tag hinauszugehen und Bambusrohre zu schneiden, etliche dick und groß, andere dünn und biegsam, manche in der Farbe von reifem Korn, und manche so grün wie Gras. Aus dem Bambus pflegte seine Frau Flöten, Blumenbehälter und Körbe anzufertigen. Einmal im Monat, bei vollem Mond, unternahmen sie gemeinsam die Reise das Flussufer hinab zur nächstgelegenen Stadt und verkauften die Dinge, die die Frau hergestellt hatte, aber nur zu dieser Zeit des Vollmondes trafen sie andere Menschen; und während die Jahre dahingingen, wurden sie immer einsamer.
    »Wäre uns doch nur ein Kind geschenkt worden«, sagte die Frau zuweilen zu ihrem Mann.
    »Ach ja, liebe Frau«, pflegte er darauf zu antworten, »wenn das der Fall wäre, verlebten wir unsere Tage sicher nicht in dieser Einsamkeit: du, indem du aus Bambus schöne Gegenstände anfertigst, und ich, den ganzen Tag draußen im Dickicht, wo ich den Bambus für dich schlage.«
    An einem Frühlingstag, als der Mond gerade im Abnehmen war, ging der alte Mann wie gewöhnlich früh am Morgen zum Wäldchen. Er war noch nicht eben lange bei seiner Tätigkeit, als er vor sich einen besonders dicken Bambusstamm schwanken sah.
    Es war windstill und alle anderen Bambusrohre standen ganz ruhig, nicht einmal die Blätter raschelten.
    Der Mann legte sein Hackmesser nieder und schaute verwundert zu dem Rohr, das sich schüttelte und schwankte, als ob es geradezu danach verlangte, abgehauen zu werden. So hieb er es dann, dicht über der zweiten Kerbe oberhalb des Erdbodens, ab. Das lange Rohr krachte zwischen das Laubwerk des Dickichts. Der Stumpf aber, jetzt nur knappe zwei Fuß hoch, fuhr in seiner schwankenden Bewegung fort und schwankte weiter hin und her. Dem alten Mann war es, als ob unter seinen Wurzeln ein kleines Erdbeben vor sich gehe. Er schwang sein Messer noch einmal, trennte den Stumpf jetzt dicht unter der ersten Kerbe ab und hob das zur Erde gefallene Stück Bambusrohr auf. Dieses jedoch zuckte sehr lebhaft und erregt in seinen Händen. Ganz ohne Zweifel war da etwas in dem hohlen Stab drinnen. Behutsam schnitt er diesen mit seinem Messer auf.
    Da nun – in dem gespalteten Bambus – lag, heftig strampelnd, ein winzig kleines Mädchen, ein weißes magnolienfarbenes kleines Persönchen mit pechschwarzem Haar. Das winzige Ding war in ein feines seidenes Gewand gehüllt: einen kleinwinzigen Kimono mit schmaler Schärpe.
    »Gepriesen sei Buddha! Das Kind, nach dem wir uns immer gesehnt haben!«, rief der Mann voller Entzücken, barg die Bambuswiege an seine Brust und lief eilends durch das Dickicht zu seinem Häuschen.
    Er wagte es kaum, die kleine Bürde seiner Frau zu zeigen, aus Furcht, das winzige Mädchen würde auf ebenso wundersame Weise wieder verschwinden, wie es gekommen war. Aber da war es tatsächlich: klein, schön und makellos gekleidet.
    Sogleich nahm nun die Frau des Bambusschlägers das Kind an ihr Herz.
    Das Ehepaar umsorgte und pflegte das Kind auf eine Weise, die für ein Land, in dem Kinder über alles geliebt werden, bezeichnet ist, doch taten sie noch ein Übriges. Sie erfassten sehr wohl, dass dieses kleine Mädchen kein Menschenkind war, und erwiesen ihm, neben all ihrer Liebe, ihre ganz besondere Ehrerbietung und Hochachtung.
    Das kleine Mädchen wuchs sehr rasch, und bevor der Mond zum Zunehmen gelangte, hatte es bereits die Größe von zwei Fuß erreicht und war aus seinem Kimono, in dem es der Mann gefunden hatte, schon längst herausgewachsen.
    Als der Mond voll geworden war, ging die alte Frau eines Tages zur Stadt und überließ es ihrem Mann, das kleine Mädchen zu betreuen. In der Stadt gab sie all ihre Ersparnisse für einen Streifen Seide und einen Streifen feiner Baumwolle aus, um darauf für das Kind, das so schnell wuchs, einen neuen Kimono zu nähen. Im Übrigen lebten sie weiter ihr Leben, wie sie es zuvor getan hatten. Sie körbeflechtend und andere Bambusgegenstände fertigend, er im Bambuswäldchen arbeitend, und beide liebten sie das Wesen. Da auf diese Weise aber all ihre
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