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Der stumme Ruf der Nacht

Titel: Der stumme Ruf der Nacht
Autoren: L Griffin
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sich nach seinem Partner um, der auf der anderen Seite des Wartezimmers stand. Der Typ kontrollierte doch tatsächlich durch die Jalousien den Verkehr auf dem North Lamar Boulevard. Entweder hatte er die Frage nicht gehört oder er war ein Idiot. Nathan kannte Will Hodges kaum achtundvierzig Stunden, aber er tippte auf Letzteres.
    »Hodges!«
    Der andere fuhr herum. »Ja?«
    »Willst du auch was?«
    »Nein.«
    Ein Idiot also. Nathan fischte den Marsriegel aus dem Automatenschacht und schlenderte auf den Gang. Er wollte endlich die Polizeizeichnerin treffen, auf die sie warteten. Fast eine Stunde hockten sie nun schon
hier, und die Tür von Raum 632 war weiter geschlossen. Das bedeutete, dass sie noch immer mit dem Zeugen am Phantombild arbeitete.
    Nathan riss die Verpackung seiner Ersatzmahlzeit auf. An Tagen wie diesen spürte er sein Alter. Er war zwar noch keine vierzig, doch zehn Jahre im Morddezernat und das ständige Junk-Food hatten seiner Fitness nicht gerade gutgetan. Für sein Aussehen erntete er in Bars bisweilen zwar noch anerkennende Blicke, aber früher war er deutlich besser in Form gewesen.
    Sein Partner kam auf ihn zu. Der Bursche sah aus, als könnte er sogar Autos herumwuchten. Wahrscheinlich trank er schon zum Frühstück Eiweiß-Shakes und ging sechsmal pro Woche ins Studio. Mindestens.
    Na ja, maximal ein Jahr noch.
    Nathan biss in den Schokoriegel und sah auf die Uhr.
    »Wir sind fertig.«
    Eine vertraute Stimme. Devereaux wandte sich um. Fiona Glass stand in der Tür. Mit ihrer abgewetzten Künstlermappe und einem Blatt Papier in der Hand. Sie trug einen leicht altmodischen, cremefarbenen Hosenanzug und hatte das rotblonde Haar streng zurückgekämmt.
    Nathan ging zu ihr, um die Zeichnung zu holen, die sie ihm hinhielt. Schon beim ersten Blick krampfte sich ihm der Magen zusammen.
    »Eine Profilzeichnung? Mehr hat sie nicht gesehen?«
    »Sie sagt, er hat sie von hinten gepackt. Ganz gesehen hat sie ihn erst, als er abhaute.«
    Nathan hörte die Anspannung in ihrer Stimme und sah auf. »Was ist los?«

    Sie ließ den Blick durch das Wartezimmer schweifen, so also dürfe niemand anderes hören, was sie ihm sagen wollte. Als sie Hodges bemerkte, zögerte sie, und Nathan wusste, dass sie ihm noch nicht traute. Fiona war kein Mensch, der schnell Freundschaft schloss, und Hodges war erst vor einer Woche zur Polizei von Austin gekommen.
    »Wo ist das Problem?«, drängte Nathan.
    »Überall.« Sie machte eine Kopfbewegung zur Zeichnung. »Wonach sieht es für dich aus?«
    »Keine Ahnung. Ein Mann schwarzer Hautfarbe. Fünfundzwanzig Jahre alt. Keine besonderen Merkmale.«
    »Und sein Ausdruck?«
    Er starrte die Zeichnung an. Sie hatte sie in Kohle auf festem grauem Blatt Kunstpapier ausgeführt. Er konnte den Fixierer riechen, was bedeutete, dass die Zeugin das Bild für fertig hielt.
    Nathan betrachtete das Gesicht eines Mannes, der kurz nach Mitternacht eine bekannte Richterin und deren Ehemann in der Garage überfallen hatte. »Sieht ziemlich gelangweilt aus«, meinte Nathan.
    »Stimmt genau.«
    Ihre Blicke trafen sich, und Nathan wusste, warum er so gern mit ihr zusammenarbeitete. Sie hatte das Auge einer Künstlerin, aber sie dachte wie ein Polizist.
    »Er hat mit vorgehaltener Waffe zwei Menschen überfallen und einen davon erschossen«, sagte sie. »Da würde ich eher Aggression, Nervosität oder Panik erwarten. Eigentlich alles außer Langeweile.«

    »Glaubst du, dass an der Sache was faul ist?«
    »Auch die Perspektive stimmt irgendwie nicht«, fuhr sie fort, ohne auf seine Frage einzugehen. Nathan wusste nur zu gut warum. Die Zeugin war Stadtrichterin. Würde Nathan auch nur andeuten, dass das, was sie über den Mörder ihres Mannes ausgesagt hatte, nicht wahr wäre, gäbe es in der Presse einen riesigen Aufschrei.
    »Die Perspektive. Du meinst, weil es nur ein Profilbild ist?«
    »Es ist ziemlich ungewöhnlich, dass man jemand bloß von einer Seite sieht, insbesondere nur von der rechten.«
    Nathan runzelte die Stirn, als er sich wieder der Zeichnung zuwandte. »Also hätte es ein linkes Profil sein müssen?«
    Sie zuckte die Achseln. »Muss nicht. Aber wahrscheinlicher wäre es.«
    »Warum?«
    »Banküberfälle.«
    Nathan warf einen Blick auf Hodges. Er stand ruhig neben dem Fenster, aber er hörte offenbar aufmerksam zu. »Was heißt das?«
    »Wenn ein Zeuge nur das Profil sieht, dann ist das für gewöhnlich der Fahrer des Fluchtautos«, stellte Hodges klar.
    Wahnsinn, ein ganzer Satz!
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