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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer
Autoren: Henning Boëtius
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Vorhängen. Es war wieder ein filmischer Abgang. Ich hatte mich nicht getraut, nach seinem Verhältnis zu Carla zu fragen. Aber Henry würde ich diese Frage stellen.
 

 

Kapitel 37
    A ls ich an diesem Abend den Turm betrat, spürte ich, dass jemand anwesend war. Kein Geräusch, kein Geruch, aber dafür die Aura eines fremden und zugleich vertrauten Körpers. Ich schaltete die Lampe an und sah mich um. Carla. Sie lag auf dem Bett, eine Decke halb über den nackten Körper gebreitet. »Sei mir nicht böse«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Es ist nichts Ernstes. Deine Mutter würde es verstehen. Denk an die Geschichte mit Herrn S.«
    Ich antwortete nicht, sondern ging nach oben auf die Plattform. Es war völlig windstill. Ein herrlicher Abend, das Meer im Restlicht der untergegangenen Sonne kupferfarben. Das Schiff, das draußen auf Reede lag, leuchtete grün, genauso wie die leichte Brandung, die sich an den Klippen brach. Ein Meeresleuchten von solcher Intensität hatte ich noch nie erlebt.
    Ich ging wieder hinunter. Carla schlief oder tat zumindest so. Ich schloss das Radio an. Das Skalenlämpchen leuchtete. Dann begann es im Lautsprecher zu rauschen. Ich drehte am Abstimmknopf. Plötzlich hörte ich eine Stimme. Sie war klar und deutlich. Es war der Wetterbericht, verbunden mit einer Sturmwarnung. Fischern und Seglern wurde empfohlen, so schnell wie möglich den nächsten Hafen aufzusuchen.
    Ich legte mich neben Carla und wagte nicht, mich zu rühren. Draußen nahm das Heulen des Windes zu. Dann musste ich eingeschlafen sein.
    Als ich erwachte, tobte bereits ein ausgewachsener Sturm. Der Turm zitterte unter den Schlägen gewaltiger Wellen. Ich stand auf und ging nach oben. Der Himmel war eine einzige Stampede jagender Wolken. Die Böen brachten mich fast zu Fall. Ich hielt mich an der Brüstung fest, um das Schauspiel so lange wie möglich zu beobachten. Plötzlich prasselte Hagel nieder. Die weißen Perlen tanzten überall auf den Steinen. Kurz darauf kam peitschender Regen und bildete große Pfützen auf dem Boden der Plattform.
    Eine zweite Front näherte sich. Sie sah noch viel gefährlicher aus, blauschwarz mit schwefelgelben Rändern. Blitze zuckten aus ihr. In einem Moment der Windstille beobachtete ich, dass die Yacht draußen offenbar den Anker gelichtet hatte und versuchte, aufs offene Meer hinaus zu gelangen. Der Gischt hüllte das Schiff bis zu den Mastspitzen ein.
    Ich ging wieder hinunter. Carla war wach. Sie lag auf dem Rücken und schien dem Sturm zu lauschen. Ich setzte mich an den Rand des Bettes. »Kannst du mir einen großen Gefallen tun?«, sagte sie.
    »Jeden. Ob klein oder groß.«
    »Dann lass mich bitte jetzt allein. Fahr in den Ort. Geh zu deinen Freunden.«
    »Bei diesem Unwetter?«
    »Hörst du nicht, dass der Sturm nachlässt? Er legt eine Pause ein. Wie es sich für einen richtigen Sturm gehört. Nimm die Vespa. Beeile dich.«
    Ich ging. Bevor ich die Tür schloss, drehte ich mich noch einmal um. Carla registrierte mich nicht. Sie starrte gegen die Holzdecke und lächelte wie jemand, der ein Geheimnis hatte, das er mit niemandem teilen muss. Kinder lächeln zuweilen so. Sie brauchen kein Publikum für ihre Gefühle. Auch meine Mutter hatte am Ende ihres Lebens manchmal so gelächelt.
    Als ich aus dem Tunnel herauskam, musste ich anhalten. Das Meer war völlig verändert. Es glich jetzt einer Schneelandschaft, so gleichmäßig war es von Gischt und Schaum bedeckt. Die €›Elettra€‹ war verschwunden. Am Himmel quollen die Wolken eine aus der anderen wie Dampf aus dem Zylinder einer gigantischen Lokomotive. Sie schienen jede Form, die sie annahmen, sofort wieder zu sprengen. Ich duckte mich, so tief ich konnte, um dem Sturm weniger Angriffsfläche zu bieten, und schob mein Gefährt die Straße entlang. Irgendwann verließen mich die Kräfte. Ich beförderte die Vespa in einen Graben und kroch auf allen vieren weiter. Als ich endlich die Stadt erreicht hatte, hatten sich die Gassen in Windkanäle verwandelt. Ich drückte mich die Wände entlang, hangelte mich von Vorsprung zu Vorsprung, suchte Halt an Regenrohren und Türgriffen. So erreichte ich die Gorillabar.
    Franco Celli, Luigi, der Regisseur, der einbeinige Henry und einige Einheimische waren da. Es war eine Stimmung wie in einem Luftschutzbunker. Die Fischer erzählten, dass das Unwetter draußen sehr ungewöhnlich sei. Es entstammte einem extremen Tiefdruckgebiet. Die Spiralarme seines Wolkenfeldes waren deutlich
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