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Der Strandlaeufer

Der Strandlaeufer

Titel: Der Strandlaeufer
Autoren: Henning Boëtius
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dort wo eine Treppe hinabführt in die unteren Etagen der weißen Stadt, stand eine Frau. Carla! Sie trug eine Sonnenbrille. Der Regisseur ging auf sie zu. Sie küssten sich, und dann verschwanden sie wie in einer langsamen ܜberblendung.
 
    Ich hatte nicht gelogen, ich wusste inzwischen nicht nur mehr über mich, sondern auch über Marconi. Ich wusste zum Beispiel, dass man ihn in der Presse wegen seiner häufig angewandten Methode, eine Hochantenne zu installieren, den Jungen mit dem Drachen genannt hatte. Ich wusste auch, dass der irritierende Blick seiner blauen Augen, die ein Erbe seiner irischen Mutter waren, der Tatsache zu verdanken gewesen war, dass er ein Glasauge getragen hatte, Folge eines Autounfalls, eines Frontalzusammenstoßes im Jahre 1912. Ich wusste, dass er ein ziemlicher Casanova war, der rücksichtslos das auslebte, wovor mein eigener so gut aussehender Vater offenbar zurückgeschreckt war. Und ich hatte eine Theorie, warum dieser rastlose Mensch überall an der Küste seine Versuche unternommen hatte. Er wollte mit seinem Vater sprechen, auch wenn der damals bereits seit über dreißig Jahren tot war und seine Villa seitdem leer stand. Der Sohn hatte nie aufgegeben, um dessen Anerkennung zu kämpfen.
 
    Ich ging ins €›Sirenella€‹, ein schlichtes Hotel im Badeviertel, traumhaft gelegen direkt am Strand. Wir trafen uns im Speisezimmer, einem großen weiß gestrichenen Saal mit hohen Fenstern zum Meer hinaus und weißen Vorhängen. Auch die Tischdecken waren weiß. Der Kellner in schwarzer Hose und weißer Jacke brachte die Vorspeise, eine Karaffe mit Wein und eine Flasche Pellegrino. Mein Gegenüber eröffnete die Unterhaltung mit einer Frage: »Was schreiben Sie im Augenblick?«
    »Nichts. Ich habe gerade ein Manuskript beendet. Eine Art Szenen einer Ehe mit Kind.«
    »Ah, Sie mögen also Bergman. Das ist gut. Ich finde ihn unglaublich. Welcher andere Regisseur hat je so erzählt wie er? Er hat den Beruf des Filmemachers zu einer Spielart des Schriftstellers gemacht. Die meisten Kollegen trauen sich nicht zu erzählen. Sie klammern sich an spektakuläre Bilder und Actionszenen wie Ertrinkende an ein Holzbrett. Meine Vorstellung von Film ist eine völlig andere. Ich möchte so filmen, dass man den Film auch erzählen kann.«
    »Sind Sie deshalb unzufrieden mit dem Drehbuch? Klammert es sich zu sehr an Bilder und erzählt es zu wenig?«
    »Genau. Sie haben es auf den Punkt gebracht. Was Marconi interessant für mich macht, sind weniger seine Taten, das, was mit ihm passierte. Da gibt es das ܜbliche. Bettgeschichten, ein Verkehrsunfall, bei dem er fast erblindete, ein paar nette Vorfälle wie ein Ballon, der sich im Unwetter losreißt und seine Antenne zerstört und Ąhnliches. Was mich wirklich interessiert, ist, was in seinem Inneren passiert.«
    »Soviel ich weiß, besteht seine einzige genuine Erfindung darin, dass er eine Antenne geerdet hat. Alles andere haben andere vor ihm entdeckt. Er muss auch innerlich geerdet gewesen sein. Zeitzeugen sagen immer wieder, dass man nie ganz an ihn herankam. Da gab es einen Wall, den man nicht durchbrechen konnte, da gab es einen Keller seiner Seele, in dem tiefe Stille herrschte. Ich weiß, wovon ich rede. Er hat einen starken und zugleich schwachen Vater gehabt, einen Vater, der ihn nicht achtete, ja, im Grunde nicht mochte, und um dessen Gunst er schon als kleiner Junge buhlte. Und er hat eine Mutter gehabt, die ihn besitzergreifend liebte und als ihr Eigentum betrachtete. Es gab zwischen ihnen eine fast inzestuöse Nähe. Bei mir war es übrigens ähnlich. Ich bin in der gleichen Elternkonstellation aufgewachsen. Ein Film über Marconi müsste einen Lichtstrahl in jenen Keller seiner Seele werfen, in dem Säcke voller enttäuschter Liebe lagern. «
    »Mir scheint, Sie sind mein Mann. Schreiben Sie mir ein neues Drehbuch. Sie haben in spätestens einem Monat den Vertrag. So, mein Freund. Es hat mich gefreut. Wir werden eine gute Zusammenarbeit haben. Die Einzelheiten können Sie mit Henry besprechen. Das ist der Mann mit dem Holzbein. Er ist der Koordinator des ganzen Teams. So etwas wie ein Inspizient beim Theater. Ohne ihn läuft nichts, wie Sie noch merken werden. Ich werde jetzt ein bisschen am Strand entlangjoggen. Möchten Sie noch einen Espresso?«
    »Ja. Und einen Grappa.«
    Er verschwand, ganz plötzlich, durch die Tür, die zum Strand führte. Einen Moment sah ich das ultramarinblaue Meer zwischen zwei wehenden, weißen
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