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Der stille Schrei

Der stille Schrei

Titel: Der stille Schrei
Autoren: Leon Specht
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Etikett für den Therapeuten: unglaublich, wie klar und weitsichtig er denkt. Ein sehr guter Zuhörer. Stell dir vor: Er stellt dir ein paar Fragen und du bist fassungslos, wie viel er von dir weiß. Und was du alles von dir nicht weißt. Du merkst es daran, dass du seine Fragen nicht mehr beantworten kannst.
    Schon damals hatte ich den Kopf geschüttelt. Meine kleine Freundin Lisa. Sie war so schnell zu beeindrucken! Ich hatte alle Antworten auf jede Frage, nur wusste ich nicht, wie ich aus meiner Falle herausfinden sollte. Dafür war schließlich ein Therapeut zuständig.
    Meine kritische Stimme meldete sich leise: Wenn du diese entscheidende Antwort weißt, dann findest du hier auch raus! Ja, ich war bereit, Lisa einen kleinen Erfolg zuzugestehen. Aber so beeindruckend konnte kein Therapeut dieser Welt sein, zumal nicht ein Mann. In der Garage stieg ich in meinen kleinen schicken Roadster, ein Geschenk von Karl zur Hochzeit. Tiefzeit. Triefzeit. Mein Gott, wie dämlich war ich damals gewesen, so auf ihn und seine coolen Macho-sprüche hereinzufallen. Verärgert über mich selbst gab ich zu viel Gas, was der Roadster mit einem Schlenker des Hecks quittierte. Ernüchtert nahm ich meinen Fuß vom Gaspedal und war dankbar, dass der Wagen sich stabilisierte.
    Die weitere Fahrt verlief wie in Trance, von einigen Hinweisen des Navigationssystems begleitet. Wie würde ich ihm meine Geschichte erzählen? Wie konnte ich mein Gesicht wahren? Wie die Wahrheit so erzählen, dass mich meine ganze Schmach und Schande nicht in meinem winzigen Rest Selbstwertgefühl beschädigen würde?
    Ich begann zu spüren, dass es nicht einfach werden würde. Mein Navi fand die Tiefgarage in Frankfurt unter dem Goetheplatz, meine hochhackigen Schuhe den Weg in die Goethestraße, sonst immer der Weg für edelste Einkäufe, nein: Prostitutionsgelder, schalt mich die kritische Stimme in meinem Kopf. Paralysiert stand ich auf einmal vor der Tür seiner Praxis. Mir war eiskalt. Eine meiner inneren Stimmen rief mir zu: Geh sofort wieder! Ich drehte mich schon um und war im Begriff, erneut vor mir selbst wegzulaufen. Ich brauchte das Flüstern der zweiten Stimme gar nicht zu hören. Der Fall war klar.
    Mein Mittelfinger machte sich selbstständig und übernahm die Verantwortung. Er drückte zitternd auf den Klingelknopf, während ich darüber nachdachte, wann und wieso ich mir das angewöhnt hatte. Mittelfinger statt Zeigefinger. Eine Ahnung umschlich mich. Der Türschnapper summte und lud mich ein, die Tür aufzustoßen. Ich verfiel in völlige Bewegungslosigkeit. Starr starrte ich auf die Tür. Der schmutziggraue Anstrich fing an zu verschwimmen, Bilder tauchten auf und verwirrten mich, bis sich die Tür plötzlich öffnete. Ein großer Mann stand vor mir.
    „Dr. Bring.“ Er lächelte mich ganz ruhig an. „Klemmt die Tür mal wieder? Das passiert des Öfteren. Kommen Sie herein. Sie sind doch sicherlich Frau Röder.“
    Ich konnte nur noch nicken und ließ mich von ihm in seine Praxis führen. Willenlos. Ein Schaf. Völlig hypnotisiert.
    „Meine Assistentin hat heute einen Tag Urlaub genommen, weil sie ihre Wohnung neu möbliert. Sie hat nämlich einen neuen Freund, der demnächst bei ihr einzieht. Vorher schafft sie noch Ordnung. Heute muss ich also den Kaffee oder Tee selbst kochen. Was möchten Sie denn trinken?“ Er drehte sich zu mir um und schaute mich aus seinen tiefblauen Augen durchdringend an.
    „Ein Glas Wasser“, murmelte ich leise. Er nickte und verschwand in der Küche, mich einfach im Flur stehen lassend.
    Ich schaute mich um. Ein langer weißer Gang. Rechts und links Türen. Einige Bilder, schwarz-weiße Fotos, symmetrisch genau aufgehängt. In welches Zimmer sollte ich gehen?
    „Bitte gehen Sie in das zweite Zimmer auf der linken Seite, hinter dem Bild mit der Birke.“
    Konnte er meine Gedanken lesen? Das Bild mit der Birke: Gebannt blieb ich stehen. Wie schön dieses Foto war! Eine Komposition in Weiß und Schwarz. Das zebragefleckte Muster der Birke zog sich über das ganze Bild hinweg. Auch der Hintergrund zeigte diese Struktur. Ich ging näher, um zu ergründen, was es war und was die Natur dort komponiert hatte.
    „Ein wunderschönes Bild, nicht wahr?“
    Seine tiefe und klare Stimme war so nah an meinem Ohr, dass ich seinen Atem spüren konnte. Ich hatte ihn nicht kommen gehört.
    „Sie fragen sich, wie dieses Bild entstanden ist.“ Nach einer Pause des Schweigens fuhr er fort. „Tja, da müssen wir Thea fragen,
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