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Der stille Schrei der Toten

Der stille Schrei der Toten

Titel: Der stille Schrei der Toten
Autoren: Linda Ladd
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Bergen im Hintergrund chinesische Bauern Reiskarren zogen.
    Die Regeln für dieses Ritual waren wie in Stein gemeißelt. Zuerst badete die Mutter das Kind und wusch sich dann selbst, denn der Balsamierer legte größten Wert auf Reinlichkeit. Sobald sie sich fein gemacht hatten, nahm sie das Kind an der Hand und führte es in die Küche, wo das Kind still am Küchentisch saß und ihr beim Kochen zusah. Wenn sie überhaupt miteinander redeten, dann im Flüsterton, denn einmal war der Balsamierer frühzeitig heraufgekommen und hatte sie bei ihrem Regelbruch erwischt. Aber das war nur einmal passiert. Nachdem die Spuren der Bestrafung verheilt waren, erhoben beide, weder die Mutter noch das Kind, ihre Stimme niemals mehr über ein Flüstern hinaus, nicht einmal, wie sie es früher zu tun pflegten, draußen im Wald.
    Jeden Abend exakt um fünf Minuten nach sechs Uhr servierte die Mutter das Essen auf dreibeinigen, von kleinen, weißen Teelichten beheizten Rechauds auf dem Tisch im Speisezimmer. Dann zog sie die schweren braunen Samtvorhänge zu, knipste die Lampe über dem Esstisch aus und entzündete die Kerzen in den beiden fünfarmigen Leuchtern, von welchen einer exakt in der Mitte der Anrichte stand, der andere genau in der Mitte des Esstisches, denn der Balsamierer speiste gern bei Kerzenlicht. Dann nahmen die Mutter und das Kind an gegenüberliegenden Seiten des Tisches Platz und legten die Hände auf die exakt richtige Art und Weise verschränkt in den Schoß, die rechte Hand über der linken, wobei der Daumen der rechten Hand in den gekrümmten Fingern der linken ruhte. Schweigend saßen sie da und warteten, bis der Balsamierer mit bedächtigen Schritten die Kellertreppe hochkam.
    Sobald er in der großen Eingangshalle mit den beiden Rosshaarsofas und der fast zwei Meter hohen antiken Standuhr angekommen war, sperrte er die Kellertür mit einem altmodischen Schlüssel ab, den er zur Sicherheit auf dem oberen Rand des Türstocks aufbewahrte. Seine Familie sprach kein Wort, wenn er in den ersten Stock hinaufging, wo er seine blutverschmierte schwarze Lederschürze abnahm, sich die Hände wusch und seinen besten schwarzen Anzug und ein weißes Hemd mit schwarzer Krawatte anzog. Wenn er sich dann auf den Weg ins Esszimmer machte, lauschten sie auf das Knarzen der großen Treppe und erstarrten, wenn die Flügeltür zum Foyer aufging. Einer großen, dunklen Bedrohung gleich füllte er den Türrahmen aus, und keiner der beiden hätte es gewagt, von seinem Teller aufzusehen.
    So war es auch um punkt halb sieben an diesem winterlichen Abend Anfang November. Nach einem vier Wochen dauernden Spätsommer war es plötzlich kalt geworden. Eisige Windböen trieben das Eichenlaub über die Wege und ließen über Nacht Eisblumen auf den Fenstern wachsen. Es war viel zu kalt im Haus, aber das war nie anders gewesen. Bei tiefen Temperaturen hielten sich die Leichen im Keller besser frisch.
    Der Balsamierer machte die Tür hinter sich zu, schritt an den Tisch heran und versicherte sich wie immer, ob ihn die Mutter so gedeckt hatte, wie er sich das vorstellte. Das Kind saß absolut still da, als der Vater seine große Hand auf den Tisch legte, um die Position des Tellers des Kinds zu überprüfen. Genau eine Daumenlänge musste der Abstand zwischen der Tischkante und dem unteren Rand des Tellers betragen, der zu einem Service mit blauem chinesischem Muster gehörte, das sich seit hundert Jahren im Besitz der Familie befand. Das Kind atmete erleichtert auf, als der Balsamierer feststellte, dass er exakt richtig lag. Dann vermaß er das Trinkglas des Kindes, indem er sich versicherte, dass es nur bis zu einer Daumenlänge vom oberen Rand her mit Milch gefüllt war. Dann widmete er sich der Position der Besteckteile. Messer und Löffel mussten exakt einen Daumen weit auseinanderliegen, die Gabel so dazwischen, ohne dass eine Berührung stattfand. Als Hilfe beim genauen Abmessen diente der Frau ein hölzernes Eisstäbchen, das der Balsamierer auf das richtige Maß zugeschnitten hatte. Sie verwendete es bei verschiedenen Tätigkeiten im Haushalt mit äußerster Gewissenhaftigkeit. Der Vater überprüfte die Serviette des Kindes und stellte fest, dass sie ordnungsgemäß gestärkt und gebügelt und exakt auf ein Drittel gefaltet war. Er ging um den Tisch herum und vermaß das Gedeck der Frau, dann sein eigenes.
    »Sehr gut«, flüsterte er und tätschelte den nach unten geneigten Kopf der Frau.
    Der Balsamierer setzte sich, während ihn
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