Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sonntagsmonat

Der Sonntagsmonat

Titel: Der Sonntagsmonat
Autoren: John Updike
Vom Netzwerk:
Mysterium unseres Daseins klarer aufgezeigt werden? Die alten Mysterien erodieren; Henri Bergson, dieser reizende Sympathisant unseres harschen Glaubens, sprach von drei quietschenden Angeln oder nicht zu erklärenden Lücken im Kontinuum des Materialismus: zwischen dem Nichts und dem Etwas, zwischen Materie und Leben, zwischen Leben und Geist. Die letzten beiden sind inzwischen mit den Rückständen atomaren Wissens verstopft worden, und selbst hinter der eindrucksvollen ersten Lücke mag eines Tages ein Zusammenhang offenbar werden: Schon haben Radioteleskope ein kosmisches Summen aufgefangen, das allem Anschein nach am äußersten Rande der Zeit seinen Ursprung hat. Was aber könnte das tiefste und schlichteste Mysterium erklären und banalisieren, nämlich daß ich mich hier befinde und nicht dort, in der Gegenwart und nicht in der Vergangenheit oder der Zukunft? Il n’ y a point de raison pourquoi; es gibt nicht den geringsten Grund, warum es so ist. So mögen denn jene unter uns, die vom Irrationalen leben, unsere Scham lindern. Wer hat uns hier hingestellt, in diesen Beruf, zu diesem späten Zeitpunkt, zur Unzeit? Die Frage stellen heißt, eine Antwort implizieren: es gibt ein qui, einen Wer, der uns hingestellt hat; wir sind nicht zufällig dahin geraten, wo wir sind. Wir sind an unseren Platz gestellt worden. Wie wir es im Grunde unseres Herzens natürlich längst wissen. Der Herr segne euch und behüte euch alle. Amen.
    [mit Bleistift, in der schrägen Handschrift eines anderen Menschen:]
    Ja – endlich, ein Sermon, der gepredigt werden könnte.

28
    Du hast gesprochen. Du existierst. Im Handteller meiner Linken kribbelt es wie in der Hand eines Mannes, der in einer Stunde auf den elektrischen Stuhl muß. Ich habe gestern abend, zwischen Golf und Abendessen, keinen Blick mehr auf diese Seiten geworfen. Ich hatte mir unerlaubterweise, ich gestehe es, aus der hintersten Ecke eines Souvenir- und Ramschladens (Wüsten-Segeltuchtaschen, Miniatursättel, Stetson-Hüte, 30 Zentimeter lange Stücke alten Stacheldrahts zu hohen Preisen) ein kleines verstaubtes grünes Buch gekauft, eine Anleitung für Sonntagsschullehrer mit dem Titel Was Jungen und Mädchen fragen und sog den verbotenen Inhalt in mich auf. So kam es, daß ich deine Bemerkung erst heute morgen sah, als ich mich an die Schreibmaschine setzte, die wie eine stumpfe Ehefrau nur noch widerwillig auf meine Berührungen reagiert, über dem gänsemistfarbenen Teppich, in den meine ruckenden Füße zwei faserige längliche Rechtecke gerieben haben. Es war Ihre Handschrift – so wie ich sie mir immer vorgestellt habe: hastig und doch lesbar, nüchtern und doch eine Spur selbstgefällig in der Gestaltung der Großbuchstaben.
    Halten Sie es wirklich für ein gutes Zeichen, meine Liebe, daß dieser letzte Sermon, klumpig von Zitaten und mit Pensee-Spänen durchsetzt (Tatsache ist doch, daß wir, selbst wenn der Himmel eine von Neonlicht erleuchtete 3-D-Reklamefläche wäre, auf der vierundzwanzig Stunden am Tag die Worte GOTT EXISTIERT aufblitzten, Mittel und Wege finden würden, daran zu zweifeln) und beklemmend bar des neurotischen, spöttischen Feuers der anderen, früheren, in einer richtigen Kirche gepredigt werden könnte, einer Kirche mit Bänken, blauen Gesangbüchern, mit Treuebrüchen und Aufbrüchen in buntem Glas und mit bona fide -Gemeindegliedern, die prall mit Watte ausgestopft sind? Haben Sie mich wirklich die ganze Zeit auf eine Rückkehr in die Welt vorbereitet und nicht auf eine Abberufung in eine bessere? Ist dies das Ende der Therapie, ein erneutes Schultern der Ambiguität, der mechanischen Pflichterfüllung, des täglichen Kleinkrams, der leeren Versprechen, der schalen Befriedigungen, der schwindenden Illusionen?
    Ja, lautet Ihre Antwort streng.
    Und ich nicke, willige mutlos ein. Ich bin bereit. Aber nur um einen Preis. Ein Ritual, ein Gral steht zwischen mir und einer wiederaufgenommenen Wirklichkeit. Sie, Ms. Prynne. Sie mit Ihrer Erscheinung von ziemlich vollendeter Eleganz, Ihrem dunklen, üppigen Haar und Ihren noch dunkleren Augen unter Augenbrauen, die so prononciert und fliehend sind in ihrer Wölbung wie zwei ärgerliche, mit ungespitztem Kohlestift gezogene Striche. Kann ich glauben, daß die anmutige Breite Ihres Nackens und der großzügige Schwung Ihres Mundes mich einmal an eine, wenn auch große und weiße Schildkröte erinnerten? Daß ich Ihr Verhalten, stets damenhaft und würdevoll, einst barsch, ja klobig und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher