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Der Sonntagsmonat

Der Sonntagsmonat

Titel: Der Sonntagsmonat
Autoren: John Updike
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gegenüber hockte. Das harte, kantige Holz schnitt in meine Hinterbacken. «Ich bin kein guter Mensch», fuhr ich fort, um mein Opfer einzustimmen. «Alles Getue.»
    Wie ich gehofft hatte, erwachte ihre Streitlust. «Gut», sagte sie, den Ball aufnehmend. «Ich weiß nicht recht, was das eigentlich ist, ein guter Mensch. Der Ausdruck hat für mich nicht viel Sinn. Dies oder das geschieht, Menschen tun dies oder das, und damit hat es sich. Ich weiß, Sie sind da anderer Meinung. Ich finde allerdings, Sie übertreiben, wie Sie sich als gläubigen Ungläubigen darstellen, als einen Mann, der schwitzend am Rande der Ewigkeit oder wo auch immer ausharrt. Sie foppen die Gemeinde. Das sollten Sie nicht tun. Die Leute da draußen sind einfach ahnungslos; sie wissen nicht, warum sie einander verletzen oder warum sie Bankrott machen, warum sie fertig oder einsam sind, oder was weiß ich. Sie sollten ihnen nicht mit Ihren persönlichen Psychodrama kommen. Ich meine, das hier sollte eigentlich nicht Ihre Vorstellung sein, sondern es ist ihre.»
    «Ich verstehe», sagte ich, was gelogen war.
    Sie durchschaute mich. «Ich meine», sagte sie, und mir gefiel der erglühende Eifer, der die straßenerfahrene, gummikauende Kühle aus ihren Zügen vertrieb, «seien Sie doch nicht so zornig über Verhaltensmuster und Hindernisse, die alle in Ihrem Kopf existie ren.»
    «Zornig? Bin ich das wirklich?»
    «Ich würde sagen», sagte Alicia, «Sie sind der zornigste normale Mann, den ich je kennengelernt habe.»
    Also haben Sie auch krankhafte zornige Männer kennengelernt? Aber das fragte ich nicht; ich fragte wohlwollend: «Was meinen Sie denn, worüber ich so zornig bin?»
    «Worüber wir alle zornig sind. Sie sind unglücklich.»
    Noch immer lächelnd, noch immer mein Lächeln von innen her mit Racheschwüren schürend, stellte ich die unvermeidliche Frage: «Und was macht mich so unglücklich?»
    Ihre Theologie, vermutete ich, würde sie antworten. Statt dessen sagte sie: «Ihre Ehe.»
    «Ist sie nicht vollkommen?» fragte ich; die Worte, albern, doch fromm vorgebracht, flogen mir von irgendwoher zu, aus irgendeinem Wörterbuch, das die Seraphim auf den neuesten Stand bringen.
    Meine liebe Organistin, sexy wie sie war, lachte. Ihr Lachen füllte die Kirche wie mit goldenem Schlamm – oder zitiere ich falsch? «Sie ist furchtbar», stieß sie kurzsichtig { * } und fröhlich hervor, und ihre von ihrer hockenden Stellung überanstrengten Kniescheiben zitterten und suchten begierig Erleichterung. «Sie ist noch schlimmer als meine, und die hat keine drei Jahre gedauert!»
    Es gibt eine Formulierung in der Bibel, deren Wahrheit sich mir in diesem Moment offenbarte: wie Schuppen fiel es von meinen Augen. Sie hatte recht. Mit einem Helm aus streng in der Mitte gescheitelten Seidenfäden war dieser Engel gekommen und hatte mit einem flammenden Schwert die grauen (pappgrauen, gehirnzellengrauen) Mauern meines Gefängnisses zerschlagen.
    Dieses Gespräch fand ganz zu Beginn der Fastenzeit statt; ich küßte sie am Karsamstagabend im Windfang zwischen der ins Kirchenschiff führenden Spitzbogentür und dem mit Wetterleisten versehenen Portal, das in die erwartungsvolle Nacht hinausführte – ich nahm sie in meine Arme über dem Drahtgestell mit Traktaten zur Fastenzeit und geeigneten Schriften für Alkoholiker, für die Einsamen, die Zweifelnden, die Entfremdeten, nahm in meine Arme ein erschreckendes, aufgewühltes, widersprüchliches, unausgeglichenes Gemisch aus Weichem und Hartem, aus warmen und kühlen Stellen – ihren Körper. Nach Ostern ließ sie sich eines Tages, als bei ihrem alten Chevrolet vorsehentlich ein Dichtungsring gerissen war, von mir nach Hause fahren und nahm mich mit die Treppe hinauf zu ihrem überraschend geräumigen Bett.
    Vielleicht ist das Gespräch, so wie ich es hier aufgezeichnet habe, ein Konglomerat aus verschiedenen, über eine Anzahl von Vor- und Nachproben-Intermezzi verteilten Unterhaltungen in zugigen, von den üblen Gerüchen flüssigen Wachses oder verschütteten Apfelweins heimgesuchten Kirchenwinkeln oder auf unangenehm eisigen Rasenflächen, während unsere behandschuhten Hände nach den Türgriffen unterschiedlicher Automobile tasteten (meines ein kaffeebrauner Dodge Dart 1971, ihres, falls die Erinnerung mich nicht trügt, ein Bel Air von 1963).
    Vielleicht aber wurden diese Worte auch nie gesprochen, und ich erfand sie, um die Stille dieses so aufdringlich keuschen Zimmers zu beleben und zu
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