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Der Sommersohn: Roman

Der Sommersohn: Roman

Titel: Der Sommersohn: Roman
Autoren: Craig Lancaster
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den stillsten Momenten, spät nachts, sah ich den Schnee vor seinem Schlafzimmerfenster fallen. Ich hielt mich an den frischen Erinnerungen fest, die wir gemeinsam hatten. Ich dachte daran, wie Avery und Adia, anfangs ihm gegenüber so argwöhnisch, als wir ein paar Wochen zuvor nach Billings gekommen waren, endlich mit diesem verschlossenen Grandpa warm geworden waren, der Verstecken mit ihnen spielte und ihnen Zauberkunststücke zeigte. An unserem letzten Abend in Billings saßen sie auf seinem Schoß und schmiegten sich an seine Brust, während er ihnen eineGutenachtgeschichte vorlas. Sie würden ihn nie vergessen, bestimmt nicht. Ich wollte das unbedingt wahrhaben. Sie hatten eine Chance, nur das Gute zu erfahren.
    In meinen dunkleren Momenten, meist in den frühen Morgenstunden, wenn ich stumm meine hartnäckig geöffneten Augen bekämpfte, fragte ich mich, ob ich auch eines Tages in solch einer glücklichen Lage sein würde. Meine Dankbarkeit für diese letzten Tage mit Dad kannte keine Grenzen, aber dennoch spürte ich den harten Boden meines Herzens durch meine Finger rinnen.
    Am Sonntagnachmittag, als Kelly schlief, saß ich an Dads Bett und las einen Louis-L’Amour-Western aus seinem Bücherregal. Zu meiner Überraschung las ich mich richtig fest. Ich hatte L’Amour so sehr verachtet, ohne ihn je gelesen zu haben. Erbarmen mit meiner Engstirnigkeit!
    »Mitch.«
    Erschrocken ließ ich das Buch fallen. Dad sah zu mir auf, die blauen Augen klar wie ein Julitag.
    »Brauchst du was, Dad?«
    Die Stimme war schwach, aber seine Worte waren fest.
    »Mitch, wir müssen was besprechen.«
    »Okay.«
    »Ich will, dass du mich an drei Orte bringst.«
    Bevor der Krebs seinen letzten Marsch begann, hatten wir über Einäscherung gesprochen. Ich war bereit.
    »Okay.«
    »Havre, wo ich gezeugt worden bin.«
    »Okay.«
    »Split Rail, auf der Ranch.«
    »Was immer du möchtest, Dad.«
    »Und Milford.«
    Meine Nackenhaare sträubten sich.
    »Milford?«
    Dad lächelte.
    »Da ist es doch mit uns den Bach runtergegangen, nicht?«
    »Ja«, sagte ich. Ich hatte das Gefühl zu ersticken.
    »Such Toby Swint auf. Er zeigt es dir.«
    »Toby? Wie?«
    »Ich hab mein Bestes getan, Mitch«, flüsterte Dad.
    Der Schlaf übermannte ihn wieder, und ich lauschte den tiefen, mühseligen Atemzügen, während ich die Bruchstücke aufzuheben versuchte von dem, was er auf mich geworfen hatte.
    Milford?
    Toby Swint?
    Kurz nach fünf an jenem Nachmittag wurde Dads Atem flach und dann hörte er schließlich auf. Ich strich ihm über die Stirn.
    »Du alter Bock.« Tränen quollen mir aus den Augen.
    Ein Lächeln umspielte Dads Mundwinkel.
    Wir ließen Dad einäschern, und ich lud seine Kumpel ein, um auf ihn anzustoßen. Charley Rayburn, Pete Rafferty, Ben Yoder und vielleicht ein Dutzend anderer mir Unbekannter kamen und erzählten bis in die frühen Morgenstunden Anekdoten von ihm. Kelly und ich lachten mit, und wir vergossen Tränen über die Seite des Mannes, die wir selten gesehen hatten. Es gibt keine allgemeingültige Norm für die Beurteilung eines Menschen; es kommt auf das Maß an und auf den eigenen Standpunkt. In jenem Zimmer sah ich Dad von einer Warte aus, die ich nie berücksichtigt hatte oder auch nur zu berücksichtigen in Erwähnung gezogen hatte. Er überraschte mich immer noch. Später kam LaVerne Simms, und ich muss sie wohl irritierend lange angestarrt haben, nachdem ich sie umarmt hatte.
    »Mitch?«, sagte sie.
    »Gott, LaVerne, ich hätte dich überall erkannt.«
    Langsam, über mehrere Stunden verteilt, verließen uns die Besucher wieder. Charley Rayburn ging als Letzter.
    »Er hatte Glück, dich zum Freund zu haben«, sagte ich.
    Charley packte mich an der Schulter mit seiner großen Pranke.
    »Du warst ein guter Junge«, sagte er. »Er war stolz auf dich.«
    Ich biss mir auf die Lippe.
    »Weißt du, bis zu diesen letzten paar Monaten habe ich das nicht so empfunden.«
    Charley lächelte. »Es ist nie zu spät, Kind. Das darfst du nicht vergessen.«
    In jenen letzten Tagen mit Dad hatten Kelly und ich Zeit, seine Habe zu sortieren und aufzuteilen. Sie erhielt ihre Briefe zurück, und wir teilten Familienfotos und andere Andenken, von denen es wenige gab. Wir waren uns einig, dass seine Kleidung und sein Hausrat anderen zugutekommen sollte. Die Montana Rescue Mission nahm sie uns gern ab. Ich bot das Wohnmobil zum Verkauf an und überließ die Einzelheiten einem Makler in Billings.
    Ich behielt Dads Pick-up. Um das zu tun, um
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