Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer der Vergessenen (German Edition)

Der Sommer der Vergessenen (German Edition)

Titel: Der Sommer der Vergessenen (German Edition)
Autoren: René Grandjean
Vom Netzwerk:
nach. Auch
die Übelkeit hatte etwas nachgelassen.
     
    Rolo blickte an Patze vorbei aus dem Fenster. Er hätte
auch gern den Fensterplatz gehabt, aber Patze war nun mal größer und stärker
als er. Dafür konnte Rolo schneller rennen.
    Draußen war fantastisches Wetter. Am blauen Himmel war
nur eine einzelne dunkle Wolke zu sehen. Sie zog ungewöhnlich schnell. Rolo
schaute genauer hin. Das war gar keine Wolke. Es war ein großer Schwarm Krähen.
Sogar der größte Schwarm, den er je gesehen hatte. Es mussten Hunderte der
schwarzen Vögel sein. Und sie kamen schnell näher. Schon fiel ihr Schatten auf
die nahen Stoppelfelder. Auf ihrem jetzigen Kurs würden sie sehr dicht über das
Dach der Schule fliegen. Oder? Rolo wurde es mulmig. Er schob seinen Stuhl
zurück und trat ans Fenster. Die Vögel machten keine Anstalten, an Höhe zu
gewinnen.
    „Sind die blind? Hey!“ Er wedelte mit den Armen. Nur
noch wenige Meter. Ihr Krächzen drang schon in den Raum. Dann prallte die erste
Krähe gegen die Scheibe. Mit ausgebreiteten Schwingen hackte sie auf sie ein.
Rolo sah das Funkeln in den schwarzen Augen. Er wich zurück. Schnell war die
ganze Fensterfront ein Chaos aus schlagenden Flügeln und scharrenden Schnäbeln.
Es wurde dunkel. Rolo wandte sich zu Patze. Aber es war nicht mehr Patze, der
auf dem Stuhl neben seinem saß. Es war ein alter Mann. Sein schütteres Haar
hing ihm in fettigen Strähnen vom Kopf. Er war klein, uralt und faltig. Und er
grinste wie eine Hyäne. In diesem Augenblick zerbarsten die Fenster unter der
Attacke der Vögel in tausend Scherben. Rolo warf sich zu Boden und verbarg den
Kopf unter den Armen. Die Krähen schwirrten wie von Sinnen durch den Raum. Rolo
schaute auf, suchte nach einem Ausweg. Da sah er, dass der alte Mann keine
Beine hatte, sondern den Unterleib einer Made. Die weiße Haut war halb
durchsichtig und glänzte feucht. Und zwischen den Krähen sah er ein Wesen auf
sich zukommen, das ihm auf seltsame Weise vertraut war. Es hatte lange dünne
Arme und Beine. Sein ganzer Körper war von weißem und braunem Pelz bedeckt. Das
Gesicht war dunkel um die Augen, mit einer spitzen Schnauze und einer
Stupsnase. Und es rief seinen Namen. Aber die Krähen ließen es nicht zu ihm
durch. Der Madenmann lachte das gackernde Lachen einer Hyäne. Sonst rührte er
sich nicht. Rolo fasste sich ein Herz und kam auf die Beine. Die Krähen stürzten
sich sofort auf ihn. Ihre Schnäbel zerhackten die Haut in seinem Gesicht. Rolo
schlug wild um sich und schrie. Der Schrei schraubte sich rauf wie eine Sirene
und ließ die Krähen platzen wie Luftballons. Es regnete Blut und Federn. Der
Madenmann klatschte Beifall und lachte. Dann streckte er die Hand nach Rolo
aus. Rolo, von Blut überströmt, spürte zu seiner eigenen Überraschung das
Verlangen, sie zu ergreifen. Doch als er seine Hand nach der des Madenmannes
ausstreckte, kehrte wie aus dem Nichts das pelzige Wesen zurück. Mit einem
beherzten Sprung überwand es den Raum, und mit einem gewaltigen Hieb seines
Schwertes trennte es den Kopf des Madenmannes vom Rumpf. Als der Kopf über den
Boden rollte, erkannte Rolo, dass es der Kopf seines Vaters war. Mitleid lag in
den gelben Augen des Wesens, als ihre Blicke sich trafen. Plötzlich schwang es
sein Schwert. Rolo sah die glänzende Klinge auf sich zukommen. Er schrie.
    „Alter“, raunte Patze.
    Es war totenstill im Klassenzimmer. Die Fenster waren
nicht zerbrochen. Rolo blutete auch nicht. Keine Krähen. Mit offenen Mündern
glotzten seine Mitschüler ihn an. Mitten in einer Divisionsaufgabe versteinert
stand Frau Gottlieb an der Tafel.
    „Roland!“
    Rolo stand auf. Er war am ganzen Körper schweißnass,
und ihm war schwindlig. Die Sohlen seiner Turnschuhe quietschten auf dem
Linoleumboden, als er sich langsam zur Tür schleppte. Dann erbrach er sich in
den Papierabfall.
     
    Rolo lag auf dem Bett. Sein Zimmer war in ein mattes,
unwirkliches Licht getaucht. Durch den Spalt zwischen den geschlossenen
Fensterläden fiel nur ein schmaler Streif Sonnenschein. Staubflocken tanzten
darin umher. Frau Gottlieb hatte schließlich ein Einsehen gehabt und ihn nach
Hause geschickt. Rolo fand, er hatte den Beweis für sein Unwohlsein eindringlich
und für alle sichtbar erbracht. Zum Glück konnte jetzt erstmal sechs Wochen
Gras über die Sache wachsen. Er war aus der Schule auf direktem Weg nach Hause
gegangen, hatte seine Tasche in die Ecke geworfen und sich in sein Zimmer
verzogen. Das war kein einfacher
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher