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Der Sommer der Vergessenen (German Edition)

Der Sommer der Vergessenen (German Edition)

Titel: Der Sommer der Vergessenen (German Edition)
Autoren: René Grandjean
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Kein Gesicht, nur
Dunkelheit. Rolo schloss die Augen, und ihm wurde kalt. Er spürte, dass seine
Füße nicht mehr den Boden berührten. Schweigend beobachteten Socke und die
Zwerge, wie die Irrlichter Rolo hochhoben und über das Wasser forttrugen.
Sockes besorgter Blick klärte sich.
    „Es geht
los.“
    Driftwood
und weniger Zwerge, als mit ihm fortgegangen waren, kehrten aus dem Irrgarten
der Höhlen von jenseits des Strandes zurück. Sie trugen große Kupferkessel,
gefüllt mit einer dunklen Flüssigkeit.
    „Wie
besprochen. Erst, wenn es stürmt!“
    Die Zwerge
salutierten. Driftwood spurtete los, das östliche Ufer entlang. Socke sprang
über Felsspalten, tauchte unter Vorsprüngen hindurch. Am westlichen Ufer
erklomm er einen Fels, der schräg aufsteigend über das Wasser ragte. Er
entdeckte Driftwood als kleinen, eiligen Punkt am gegenüberliegenden Ufer. Die
Irrlichter glitten wie eine stumme Prozession über den See. Rolo lag mit
geschlossenen Augen auf ihren ausgestreckten Armen wie auf dem Totenbett. „Dann
ist es jetzt wohl Zeit.“ Mit einem tiefen Atemzug fand Socke seine Mitte und schlug
Wurzeln in den harten Untergrund. Das kostete ihn viel Kraft. Sein Fell
sträubte sich, und er reckte die Arme in die Luft. Gelbe Tränen liefen über
seine Wangen, und die schwarzen Sonnen strahlten dunkel, als er die Augen
wieder aufschlug. Im selben Moment erreichte Driftwood sein Ziel. Er schnappte
keuchend nach Luft, schleppte sich erschöpft den steilen Fels hinauf. Von dort
sah er, dass die Irrlichter mit Rolo die Mitte des Sees erreicht hatten. Und
Socke, der am gegenüberliegenden Ufer im Schein seines eigenen, schwarzen
Lichtes erstrahlte. Blitze zuckten, und dann sprudelten schwarze Wolken aus
Sockes Augen. Er fiel auf die Knie. Sein Körper bebte.
    „Sehr gut,
Socke. Zieh durch!“
    Die Wolken
formierten sich zu einem rotierenden Strudel dicht unter der Höhlendecke. Dann
begann der Regen. Die ersten Tropfen kräuselten die Oberfläche des Sees. Die
Irrlichter stoppten. Socke wusste, es war vollbracht. Er spürte noch die erste
zarte Windböe, dann fiel er lächelnd in Ohnmacht. Am südlichen Ufer blickten
die Zwerge ungläubig in den Sturm, der die massigen Stalaktiten umwehte. Sie
hatten seit Ewigkeiten keine Wolken mehr gesehen. Grimor schwenkte eine Fackel.
Am nördlichen Ufer bestätigten die Zwerge, die nicht mit Driftwood
zurückgekehrt waren, das Signal. Die Fackeln flackerten im Wind. Dann
entzündeten sie den Teer. Die Irrlichter fauchten, als am nördlichen und
südlichen Ufer breite Flammenzungen aufloderten. Über die gesamte Länge des
Ufers hatten die Zwerge schmale Gräben ausgehoben und mit flüssigem Teer
befüllt. Der stärker werdende Regen verdampfte zischend in den Flammen. Der
Sturm kam in Fahrt. Rolo spürte den Wind und öffnete die Augen. Er zog das Ei
aus seiner Tasche und drückte es fest an sich. Noch nicht!, dachte er.
    Der Wind
peitschte das Wasser. Die Irrlichter ritten auf den mächtigen Wellen. Donner
rollte durch die Höhle. Die Rutschbahn schwankte. Dann krachte sie zusammen und
versank in den tosenden Fluten. Driftwood glühte wie ein schwarzer Stern. Er
spürte weder Wind noch Regen. Die Zwerge schossen brennende Pfeile aus ihrer
Deckung hinter den Feuerwänden. Sie trieben die Irrlichter fort von den Ufern.
Und in dem Augenblick, wo der Wind mannshohe Brecher über den See jagte, schrie
Driftwood seinen Zauber in den Sturm.
    „See
gefriert, und Welt erstarrt.
    Eis regiert,
der Winter naht.
    Kälte
herrscht, und Frost zu mir,
    Nichts
bewegt sich nimmer mehr.
    Felsen
bricht, und Äste kahl,
    Nachtalb
spricht, und Sonne fahl,
    Kälte
herrscht, und Frost im Herz.
    Ewig soll
der Winter euch verschlingen!“
    Und die
Magusch wandelte den Regen zu Schnee und Hagel. Die Zwerge wichen zurück, als
ihnen ein eisiger Hauch entgegen schlug. Der Teer gefror, und selbst das Feuer
erstarrte zu Eis. Driftwood blinzelte erschöpft durch den Schneesturm auf den
See hinab. Er durfte die Besinnung nicht verlieren. Noch nicht. Die Irrlichter
trieben haltlos auf dem Wasser. Ein goldenes Licht erstrahlte, und Rolo war
verschwunden. Dann kam die Welle. Sie brach tosend und riss die kreischenden
Irrlichter hinab in die Tiefe. Beginnend vom flachen Ufer gefror der See
knisternd. Die Wellen erstarrten wie gläserne Skulpturen. Die Irrlichter hatten
fast die Oberfläche erreicht, als das Eis sie umschloss und gefangen nahm. Doch
noch war es nicht überstanden. Driftwood blickte hinab auf die
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