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Der Sommer der Vergessenen (German Edition)

Der Sommer der Vergessenen (German Edition)

Titel: Der Sommer der Vergessenen (German Edition)
Autoren: René Grandjean
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den
Wind wie ein Hund.
    „Fremde Gerüche.
Was geht hier nur vor?“
    Unmittelbar
vor ihm brach ein Ast. Unzählige Vogelherzen schlugen schneller. Die Krähen
erhoben sich krächzend von ihrem Lager in der Baumkrone. Tweed schaute ihnen
nach. „Feiglinge!“
    Zu seiner
Linken ein Rascheln. Eine Eiche stand dort, leicht erhöht zu den anderen Bäumen
des Waldes. In ihrer Krone, zwischen den wenigen welken Blättern, die sich den
Herbstwinden widersetzt hatten, bogen sich die Äste. Kein Mann erlebt so viele
Winter, wenn die Vorsicht nicht sein ständiger Begleiter ist. Tweed war stets
auf alles gefasst, hielt Augen und Ohren offen. Aber Nebel, und war er noch so
eigenartig, machte ihm keine Angst. Seine zauberhafte Trance schien ihm nicht
in Erinnerung geblieben. Die Krone der alten Eiche zitterte, als würde sich
eine ungeschickte Taube darin herumdrücken, und der frische Schnee rieselte
hinab. Tweed war es, als höre er Musik. Aus weiter Ferne schien der Wind sie
heranzutragen. Er vernahm Stimmen, die Worte jedoch verstand er nicht. Die
Zweige bewegten sich nicht vom Wind, oder weil jemand den Baum schüttelte. Aus
eigener Kraft. Wie tastende Arme, die Halt suchten, wogten sie hin und her, als
wollten sie nach dem Mond greifen. Es erschien Tweed wie ein Tanz, so anmutig war
die Bewegung. Langsam, aber bald schon deutlich, konnte er erkennen, dass hier
kein unkontrollierter Wirrwarr herrschte. Das hier war kein zufälliges
Geschehen, keine Laune einer seltsamen Nacht. Hier war ein lenkender Wille am
Werk. Die Zweige verwoben sich miteinander. Unsichtbare Hände schienen einen
Kranz zu flechten. Ein Gesicht. Ein nahezu menschliches Gesicht. Dort sind
bereits Mund und Nase zu erahnen.
    Aus den
Tiefen der Krone schoben sich zwei Eicheln gerade dahin, wo Tweed die Augen
erwartete. Darüber nahmen Äste die Position von Augenbrauen ein. Und wie aus
einem langen Schlaf erwacht, begannen die Eichenaugen zu strahlen. Es waren
freundliche Augen. Der Mund wollte sich öffnen. Erst verweigerten sich die
hölzernen Lippen, wollten aneinander kleben wie die Fliege im Netz der Spinne.
Tweed konnte die Anstrengung nahezu spüren. Er schmunzelte. So seltsam die
Geschehnisse in dieser Nacht waren, er spürte, hier waren die guten Kräfte am
Werk. Unbewusst presste auch er seine Lippen aufeinander. Mit einem Plopp öffnete sich der Mund des Holzgesichts. Und dann ertönte eine Stimme, so tief,
dass Tweed sie bis in die Magengrube spüren konnte.
    „Ahhh.“ Der Baum lächelte. „Ahhh ist das guuut.“ Er schürzte die Lippen, als
müsse er sich erst daran gewöhnen, wieder einen Mund zu haben.
    Tweed lachte
über die Grimassen des Baumes. Doch als die Eichenaugen auf ihn hinab blickten,
senkte er den Blick.
    „Zu dir
später. Jetzt ist es Zeit. Die Zeit! Laaang habt ihr gewartet, laaang habt ihr
geruht, meine Kinder.“ Der Baum ließ seinen Blick über den nebligen Boden
wandern. An einer Stelle, die für Tweed wie jede andere aussah, verharrte er. „Jaaa,
hier. Hier war es. Aufgepasst. Die Zeit drängt!“ Der Baum schloss die Augen
und begann einen murmelnden Gesang. Es war dieselbe Melodie, die der Wind herangetragen
hatte. Selbst Tweeds feines Gehör reichte zunächst nicht aus, um die Worte zu
verstehen. Ein Chor, eine Art Kanon, gesungen vom Wind und dem Baum, entstand.
    „Ich bin das
Land.“
    Waren das
die Worte?
    „Wieder und
wieder.“
    Ja, kein
Zweifel: „Ich bin das Land, wieder und wieder. Ich bin das Land,
wieder und wieder.“
    Und mit
jeder Wiederholung wurde der Gesang eindringlicher. Der Baum schien sich zu
konzentrieren, seine Kräfte zu bündeln. Ein elektrisierendes Flirren fuhr durch
den Boden. Es kitzelte Tweed an den Füßen. Die nackten Äste, welche das Gesicht
formten, sprossen. Knospen wuchsen, aus denen sich zarte Blätter entfalteten.
Das Laub füllte rasch die kahlen Stellen des Gesichts und umrahmte es wie einen
Adventskranz. Als würde ein ganzer Frühling in diesem kurzen Moment vollendet.
Doch nur an dieser Stelle schien der Winter vorbei, der übrige Wald war von dem
Zauber nicht ergriffen. Der Gesang endete abrupt, und auch der Wind schwieg.
Mit fester Stimme sprach der Baum: „Die Sonne weicht, das Dunkel heilt, zu
lang im Erdenschoß verweilt. Errette dich, erwecke dich, doch nicht ohne des
Mondes Licht. Der Finstere, die dunkle Plage, entsteige deinem erdig’ Grabe.
Erwaaache mein Kind!“ Die Worte hallten nach zwischen den Bäumen.
    „Erwache“,
flüsterte es aus dem welken
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