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Der Sommer der Vergessenen (German Edition)

Der Sommer der Vergessenen (German Edition)

Titel: Der Sommer der Vergessenen (German Edition)
Autoren: René Grandjean
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nach eins!“ Er beeilte sich, um nicht den Rest des Tages
auch noch im Haus zu vertrödeln. Gespannt lüftete er den Deckel des Topfes auf
dem Herd. Spaghetti. Es gab Schlimmeres. Während er aß, warf er Igel Nudeln zu,
was der Kater mit dösiger Gleichgültigkeit hinnahm.
    Stimmen vor dem geöffneten Küchenfenster ließen Rolo
aufhorchen. Er stand auf und schaute hinaus. Es war seine Lehrerin, Frau
Gottlieb.
    „Verdammt!“ Er ahnte, dass ihm ein unangenehmes
Gespräch mit seinem Vater bevorstand, und schloss das Fenster. Dabei fiel sein
Blick auf ein gerahmtes Foto an der Wand. Rolo war bestimmt eine Million Mal
daran vorbei gelaufen, aber richtig betrachtet hatte er es noch nie. Seine Nase
war genau so spitz wie ihre. Auch die glatten, schwarzen Haare hatte er von
ihr. Nur waren seine kürzer und strubbeliger. Sie hatte auch grüne Augen. Wie
er. Es war das einzige Bild, das er kannte, auf dem sie zusammen zu sehen
waren. Wieso hatte sein Vater es eigentlich in die Küche gehängt? Mit ihrem
bunten Kleid verschwand sie zwischen den Blumen, die auf der Wiese wuchsen, auf
der sie saß. Rolo überlegte. Er war jetzt dreizehn. Dann war er ein Jahr alt
gewesen, als das Foto entstanden war. Sie dreiundzwanzig. Er fand, sie sah nett
aus, wie sie den Kopf in den Nacken warf und lachte. Ihre Hände wirkten riesig
groß, wie sie seine kleinen Ärmchen umfassten. Sie hielt ihn ganz fest. Dass
man seine Mutter vergessen kann, ging es ihm durch den Kopf. Sie war schon
zwölf Jahre tot. Rolo kam ein Film in den Sinn, den er kürzlich gesehen hatte. Es
war Peter Pan. Kapitän Hook drohte Peter mit dem Tod. Und Peter erwiderte:
„Sterben, was für ein Abenteuer.“ Rolo stellte sich sterben vor wie
einschlafen. Oder wie Stromausfall. Und dann wie vor der Geburt. Wäre es
nicht prima, wenn man sich daran erinnern könnte, wie es vor der Geburt war?
Dann müsste niemand mehr Angst haben vor dem Tod. Der Gedanke gefiel ihm.
Der Tod seiner Mutter war plötzlich gekommen. Rolo wusste, dass man sagte, dass
in diesem Moment das ganze Leben an einem vorbei zieht. Was sie wohl sah?
Vielleicht ihn? Wäre sie an jenem Tag nicht mit dem Auto gefahren, wäre sie
noch da. Hätte sie nicht ein bisschen besser aufpassen können? Der
Gedanke machte ihn wütend. Er musste sich das doch auch jeden Tag anhören.
Kletter’ da nicht hoch! Schneide dich nicht! Sei nicht so wild! Fass das nicht
an! Als wäre er bescheuert! Das hätte Paps mal lieber dir erzählt: Fahr
nicht so schnell. Er nahm sich vor, besser auf sich aufzupassen, wenn er
mal eine Familie hätte. Plötzlich wusste er, warum er das Bild noch nie richtig
angeguckt hatte. Es stach im Bauch. Er ärgerte sich. Heute begannen die Sommerferien,
und er stand hier wie sieben Tage Regenwetter. Jetzt fuhren wieder alle in den
Urlaub. Alle außer ihm. Sein Vater war so belesen. Er wusste fast alles über
andere Länder, was es zu wissen gab. Aber mal hinfahren? Pustekuchen. Immer die
Ausrede, sie könnten die Katze nicht allein lassen. Rolo glaubte, sein Vater
hatte vor irgendetwas Angst. Darum ging er auch so selten raus. Nur wenn er
musste. Er war wirklich ein Kauz. Zwar mit dem Herz am rechten Fleck, aber ein
Kauz. Was hatte er gestern noch gleich gesagt? „Mit dem Kummer ist es wie mit
einer Katze, die sich putzt. Man wird nie fertig. Ist hinter dem Ohr alles
sauber, fängt man an den Beinen von vorne an.“ Manchmal erzählte er echt
schräge Sachen. Wie er auch immer rumrannte. Rolo hätte ihm so gern mal was Cooles
zum Anziehen ausgesucht. Er war seit ihrem Tod allein. Schon zwölf Jahre. Nicht
richtig allein. Rolo war ja da. Aber trotzdem. Mit einer Frau im Haus wäre
bestimmt vieles anders gewesen. Auf die hätte Paps vielleicht gehört. Ihm hörte
er ja nicht mal zu. Er hat nicht gewusst, dass heute die Sommerferien
beginnen. Das wette ich. Wenn sein Vater ihn mal in die Arme nahm, musste
Rolo immer an die feierliche Begrüßung zweier Staatspräsidenten denken, die
sich eigentlich spinnefeind sind und nur vor den Kameras der versammelten
Weltpresse auf dicke Kumpels machten. Die umarmten sich auch immer so steif. Vielleicht
wäre es gut gewesen, einen Bruder zu haben. Dann hätte Rolo jemanden zum
Rumhängen, auch in den Ferien. Aber keinen großen. Dann müsste er noch dessen
olle Klamotten auftragen. Und keinen kleinen, der ihm nur an der Schleppe hing. Wenn ich mal eine Familie habe, dann fahren wir jeden Sommer weg. Ans Meer.
Nicht in die Berge. Er wunderte sich, was heute in
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