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Der Sohn des Wolfs

Der Sohn des Wolfs

Titel: Der Sohn des Wolfs
Autoren: Jack London
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ganzen Tag vor den Hunden bleiben kann, darf mit gutem Gewissen und einem Stolz, der über alle Begriffe geht, in seinen Schlafsack kriechen. Und wer zwanzig Tagemärsche unterwegs bleibt, ist ein Mann, den die Götter selbst beneiden dürfen.
    Es wurde Nachmittag, und unter der drückenden Benommenheit, die von dem weißen Schweigen erzeugt wird, machten die stummen Reisenden sich an ihre Arbeit.
    Die Natur hat viele Möglichkeiten, den Menschen von seiner Sterblichkeit zu überzeugen – der unendliche Wechsel der Gezeiten, das Wüten des Sturmes, die Schrecken des Erdbebens, der rollende Donner des Himmels – , aber am betäubendsten von allem ist die totengleiche Ruhe des weißen Schweigens. Jede Bewegung hört auf, der Himmel ist klar, das leiseste Flüstern wird eine Entweihung. Und der Mensch wird ängstlich, fürchtet sich vor dem Klang seiner eigenen Stimme. Ein winziges Atom von Leben, zieht er durch die geisterhaften Weiten einer toten Welt, zittert über seine eigene Verwegenheit und erkennt, daß er ein Wurm und nicht mehr ist. Seltsame Gedanken kommen ungerufen, und das große Geheimnis aller Dinge kämpft um Enthüllung. Und die Furcht vor dem Tode, vor Gott, vor dem All kommt über ihn – die Hoffnung auf Auferstehung und Leben, die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, die gebundene Kraft seines Wesens, die sich vergebens müht, frei zu werden – ja, wenn je, so wandert der Mensch dann allein mit Gott.
    So verging der Tag.
    Der Fluß machte einen großen Bogen, den Mason abschnitt, indem er sein Gespann quer über die schmale Landzunge steuerte. Aber die Hunde kamen nicht auf das andere Ufer hinauf. Immer wieder glitten sie zurück, obwohl Ruth und Malemute Kid den Schlitten schoben. Noch eine Anstrengung. Die elenden, vom Hunger ermatteten Tiere boten ihre letzten Kräfte auf. Hinauf – hinauf – der Schlitten schwankte auf dem äußersten Rande, aber der Leithund bog nach rechts ab und stolperte über Masons Schneeschuhe. Das Ergebnis war traurig. Mason verlor das Gleichgewicht; einer der Hunde stürzte im Geschirr, der Schlitten glitt zurück und riß sie alle wieder mit zum Fluß hinunter.
    Klatsch! Die Peitsche fiel wild auf die Hunde, und namentlich auf den gestürzten.
    »Nicht, Mason«, bat Malemute Kid, »der arme Teufel pfeift auf dem letzten Loch. Warte, wir ziehen den Schlitten wieder hoch.«
    Mason hielt ruhig die Peitsche zurück, bis das letzte Wort gefallen war, dann schoß die lange Schnur heraus und wand sich ganz um den Körper des schuldigen Tieres. Carmen – sie war es nämlich – kroch im Schnee zusammen, heulte jämmerlich und fiel auf die Seite.
    Es war ein kritischer Augenblick, eine unheimliche Episode der Reise: ein sterbender Hund und zwei aufgebrachte Kameraden. Ruth blickte flehend von einem zum andern. Aber Malemute Kid beherrschte sich, obwohl eine Welt von Vorwürfen in seinen Blicken lag, als er sich über den Hund beugte und die Riemen zerschnitt. Kein Wort wurde gesprochen. Die andern Hunde wurden vorgespannt und die Schwierigkeit überwunden; die Schlitten kamen wieder in Gang, der sterbende Hund schleppte sich hinterher. Solange ein Hund auch nur kriechen kann, wird er nicht erschossen, man gibt ihm noch die letzte Chance, ins Lager zu kriechen, wenn er kann, und gerettet zu werden, falls man einen Elch erwischt.
    Mason bereute schon seine Heftigkeit, war aber zu eigensinnig, um sich zu entschuldigen. Er arbeitete sich vor, bis er die Spitze des Zuges erreicht hatte, ohne die Gefahr zu ahnen, die drohte. Die Bäume standen schirmend dicht am Ufer, und zwischen ihnen hindurch mußten sie sich ihren Weg bahnen. Fünfzig Fuß oder weiter vom Wege ragte eine mächtige Kiefer empor. Seit Generationen stand sie da, und seit Generationen hatte das Schicksal seine Absicht mit ihr – und vielleicht mit Mason gehabt.
    Er beugte sich nieder, um den Riemen des einen Mokassins fester zu schnallen. Die Schlitten hielten, und die Hunde legten sich in den Schnee, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben. Die Stille war unheimlich. Nicht ein Hauch regte sich in dem bereiften Wald; die Kälte und das Schweigen des Raumes hatten das Herz der Natur vereist und ihre zitternden Lippen zum Schweigen gebracht. Ein Seufzer zitterte in der Luft – sie hörten es weniger, als daß sie es fühlten. Es war wie der Vorbote einer Bewegung in diesem von jeder Bewegung verlassenen Urwald. Dann spielte dieser große Baum, der von der Wucht der Jahre und des Schnees beschwert war, seine
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