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Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger

Titel: Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
Autoren: Torsten Fink
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waren plötzlich verschwunden, und sie schickten Kolyn voraus, ihre Ankunft anzukündigen. Dann sahen sie den Rauch der Lagerfeuer. Awin war erst einmal, vor vielen Jahren, an diesem See gewesen. Er galt als heiliger Ort. Die Alten erzählten, er sei entstanden, weil Hirth, die Hüterin der Herden und Weiden, einst ihre große Sichel dort abgelegt habe. Und als sie sie wieder aufhob, um das hohe Gras zu mähen, sei ein tiefer Abdruck zurückgeblieben, der sich mit Wasser gefüllt habe. Die geschwungene Form des Sees, in den sich eine Halbinsel weit hineinschob, erinnerte Awin wirklich an eine stark gekrümmte Sichel. Es war ein stiller Ort, und im
unergründlichen Wasser des Sees spiegelte sich der Himmel auf eine Weise, die die Abbildung beinahe erhabener erscheinen ließ als das Vorbild. Von dieser Erhabenheit hatte die Not wenig übrig gelassen. Rauch stieg zwischen zahlreichen Hakul-Zelten auf, die sich auf der Halbinsel drängten.
    »Sagtest du nicht, es seien nur einige Hakul hier?«, fragte Awin Wela verwundert.
    »So war es auch, als wir aufbrachen. Doch jetzt sind es dreioder viermal so viele, wie mir scheint. Ich hoffe, wir finden noch Platz für ein weiteres Zelt. Sonst müssen wir sehen, wie wir euch drei noch unterbringen.«
    »Vier«, verbesserte Awin, aber Wela schwieg dazu.
    Am Hals der Halbinsel waren Wagen zu einem notdürftigen Schutzwall zusammengeschoben worden, und davor machten sich einige Männer am gefrorenen Boden zu schaffen. Awin erkannte, dass sie mit behelfsmäßigem Werkzeug einen Graben aushoben. Ein schwarzbärtiger Mann schien die Arbeit zu beaufsichtigen. Er trat ihnen entgegen und warf einen Blick in ihren Wagen. »Sehr gut«, sagte er zufrieden, »ihr bringt Feuerholz. Das können wir gebrauchen.«
    »Es ist unser Feuerholz, Yaman Uredh, und wir werden sehen, ob wir etwas davon entbehren können«, entgegnete Tuge.
    »Ich hoffe, du erstickst an deinem Geiz, Hakul«, zischte der Yaman wütend.
    »Lieber ersticke ich am Geiz, als dir zuliebe zu erfrieren, Hakul«, antwortete Tuge ruhig.
    »Ich sehe, ihr seid ein Volk, das in der Not zusammenhält«, spottete Merege, als sie dem Wagen auf die Halbinsel folgten.
    »Wir werden niemanden von unserem Stamm erfrieren lassen«, stellte Awin klar, »aber es gefällt uns nicht, wenn ein anderer unser Hab und Gut einfach als das Seine ansieht.«
    »Und was ist mit mir? Ich gehöre nicht zu deinem Stamm.
Und wenn ich in diese Gesichter hier sehe, fühle ich mich nicht sehr willkommen.«
    Auch Awin konnte aus den Mienen der Hakul tief verwurzeltes Misstrauen lesen, als sie die Kariwa bemerkten. Hakul mochten Fremde nicht besonders. »Du gehörst zu unserem Sger, damit stehst du auch unter unserem Schutz. Oder hat dich jemand aufgehalten, als du dieses Lager betreten wolltest?«
    »Und doch scheint sich niemand zu freuen, dass unser Sger hier angekommen ist«, meinte Merege trocken.
    Awin blickte sich um. Die Kariwa hatte gut beobachtet. Die wenigen Hakul, die vor den Zelten waren, musterten die Neuankömmlinge neugierig, aber auch ablehnend. Der Sichelsee war eine Zufluchtsstätte, die allen offen stand, aber viele Hakul schienen sich die Frage zu stellen, ob sie noch mehr Flüchtlinge willkommen heißen sollten. Schon jetzt standen die Rundzelte dicht beisammen, und Schafe und Ziegen drängten sich dazwischen. Es brannten Opferfeuer, und Awin sah auch einige Schalen, in denen Wasser gefroren war. Natürlich, sie hatten Wasseropfer gebracht, um Slahan zu besänftigen. Er glaubte nicht, dass das noch helfen würde. Der sonst übliche Auflauf, mit dem die Rückkehr eines Sgers oder die Ankunft eines Fremden begrüßt wurde, blieb aus. Männer, Frauen, Kinder standen im Morast, der sich unter dem Tritt der vielen Stiefel und Hufe gebildet hatte, und starrten die Neuankömmlinge mit verschränkten Armen an. Dann sah Awin das Yamanszelt. Gregil stand davor, einige Kinder waren bei ihr. Awin hielt sein Pferd an. Eri ritt langsam an ihm vorüber. Seine Mutter musterte ihren tot geglaubten Sohn stumm, mit schneeweißem Gesicht. Er hielt sein Pferd neben ihr an und nickte ihr zu. Sie erwiderte den Gruß knapp, eine Yamani, zu stolz, ihre Gefühle zu zeigen. Eri sprang ab, ging an ihr vorüber und verschwand im Zelt. Sie folgte ihm wortlos. Kolyn wollte hinterher, doch
Tuge hielt ihn am Kragen fest. »Glaube mir, mein Junge, es ist besser, wir lassen die beiden erst einmal eine Weile allein. Wir haben doch noch ein zweites Zelt aufgeschlagen, in dem wir
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