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Der Skandal (German Edition)

Der Skandal (German Edition)

Titel: Der Skandal (German Edition)
Autoren: Fran Ray
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ohne Vater und mit einem Cop als Mutter aufwächst, dann sorg wenigstens für eine schöne Umgebung!, hat sie sich gesagt.
    Über die Rückenlehne der Couch hinweg sieht sie in den Fernseher. Irgendeine billig produzierte Polizeiserie läuft, das hört sie schon an der Musik, und sie ist sich sicher, dass ihr Bruder eingeschlafen ist, denn so etwas gehört nicht unbedingt zu seinen Lieblingssendungen.
    »Tim?«, sagt sie leise und geht näher zur Couch.
    Da ist er nicht.
    Und dann entrollt sich die Szene: Der Couchtisch ist umgekippt, davor liegt ihr Bruder, auf dem Rücken, den Kopf nach rechts gedreht, um seinen Oberkörper herum ist der dicke helle Teppich rotbraun.
    Sie geht zu ihm, sinkt auf die Knie, will seinen Kopf zu sich drehen, aber das ist nur ein Reflex, sie weiß, dass sie nichts anfassen darf, nicht an einem Tatort … Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund ist offen. Das weiße T-Shirt ist voller Blut, jemand hat ihm in die Brust geschossen oder gestochen …
    Sie will es nicht denken, sie hofft, dass es die vielen Whiskys sind, dass ihr Bruder gleich die Augen aufschlägt und sie angrinst. Doch nichts geschieht.
    Und dann schießt die Panik in ihr hoch.
    »Jay …«
    Jetzt erst zieht sie die Waffe aus dem Holster.
    Wo ist Jay?
    Der Albtraum ist nicht vorbei.
    Ihre Beine zittern, als sie aufsteht, sie schleicht durch die Wohnung, will auf alles gefasst sein. Und trotzdem wischt sie die Bilder von den Tatorten zur Seite, die sich ihr vor die Augen projizieren. Das Schlafzimmer, denkt sie, er hat sich vielleicht im Schlafzimmer versteckt. Sie zögert, etwas in ihr will nicht wissen, was sie dort finden könnte, sie würde es nicht ertragen … Aber dann steht sie doch vor der Tür, stößt sie auf, schaltet das Licht an. Alles ist wie immer. Ihr Bett ist unbenutzt, ein paar Kleidungsstücke liegen auf dem Stuhl neben dem Fenster, die Rollos sind heruntergelassen, die Lamellen gekippt. Es gibt keine Nischen, keinen Raum unter dem Bett. Nur den Schrank. Dort hängen ihre Kleider und Hosen, liegen ihre Blusen, T-Shirts, ihre Unterwäsche und Strümpfe. Wenn er sich dort versteckt hat … Sie holt Luft und reißt den Schrank auf.
    Zum ersten Mal denkt sie an Entführung. Dann wäre er vielleicht noch am Leben, oder?
    Jetzt zögert sie nicht mehr. Sie hält die Waffe schussbereit, verbietet sich jeden Gedanken und nimmt sich das nächste Zimmer vor. Sein Kinderzimmer. Auch sein Bett ist unbenutzt. Dann steht sie vor dem Schrank mit den blau gestrichenen Türen. Sie macht ihn auf. Die Regalbretter mit seinen T-Shirts, die Stange mit seinen Jacken.
    Bleibt das Badezimmer. Und der Garten.
    Die Badezimmertür ist angelehnt, drinnen ist es dunkel. Es ist still bis auf die Stimmen aus dem Fernseher. Irgendetwas sagt ihr, dass er da drin ist. Ist es das unsichtbare Band zwischen Mutter und Kind? Oder ist es die jahrelange Erfahrung als Cop? Weil ein Badezimmer oft als geschützter Raum wahrgenommen wird – klein, ohne Fenster. Und weil es genau deshalb zur Falle wird.
    Sie drückt die Tür auf und tastet nach dem Lichtschalter. Gleißendes Licht schießt in den Raum und blendet sie. Als Erstes nimmt sie es als Schatten wahr, dann weiß sie, was es ist: Blut. Blutschlieren an den Wandfliesen, Blutschlieren auf den Bodenfliesen. Sie muss keine Spezialistin sein, um eine Richtung zu erkennen. Die Spuren führen zur Dusche hinter der gemauerten Trennwand. Etwas in ihr will auf dem Absatz kehrtmachen und weglaufen, doch etwas anderes in ihr ist stärker.
    »Jay«, flüstert sie. »Jay?«
    Das alles passiert in Bruchteilen von Sekunden, und doch dehnt sich die Zeit. Die zwei, drei Schritte um die Trennwand herum scheinen eine Ewigkeit zu dauern.
    Klein, ganz klein kauert er in der Ecke der Dusche. Sein Pyjama ist voller Blut. Sie stürzt auf ihn zu, fällt auf die Knie, zieht ihn zu sich, umarmt ihn ganz fest.
    »Jay!« Sie zwingt sich, die Tränen zurückzuhalten, aber es gelingt ihr nicht. Er fühlt sich so kalt an und so schweißig. Aber er lebt doch, oder, er lebt? Sie presst ihn noch stärker an sich, diesen zarten, kleinen Körper, sie will ihn wärmen, er bewegt sich nicht, lieber Gott, er darf nicht tot sein, bitte …
    Endlich spürt sie seinen Atem, sein Herz, aber er sieht sie nicht an. Seine Augen starren auf irgendetwas hinter ihr. Mit ihm im Arm wirbelt sie herum, die Waffe in der Hand. Sie wird abdrücken, ohne zu zögern.
    Doch da ist nichts.
    »Jay, mein Schatz«. Sie streichelt sein Gesicht. Eine Woge
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