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Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Titel: Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Autoren: Robert L Stevenson
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Lebensführung. Dünkte ihn doch grillenhafte Phantasterei fast als etwas Unschickliches. Außerdem verstärkte seine Unkenntnis dieses Mr. Hyde noch seine Abneigung. Jetzt kannte er ihn plötzlich. Es war schon schlimm genug, als der Name lediglich ein Name war, über den er nicht mehr zu erfahren vermochte. Um wieviel ärger war es jetzt, da sich an diesen Namen so abscheuliche Attribute zu heften begannen; und heraus aus dem schwankenden, ungreifbaren Dunste, der so lange seine Augen verschleiert hatte, löste sich plötzlich die konkrete Vorstellung eines Teufels.
    »Ich glaubte, es wäre Wahnsinn«, sagte er, während er die ominösen Schriftstücke wieder in das Safe legte, »und jetzt regt sich in mir die Furcht, daß es Schande bedeutet.«
    Damit blies er die Kerze aus, zog einen weiten Mantel über und machte sich auf in Richtung nach Cavendish Square, der Hochburg medizinischer Wissenschaft, wo sein Freund, der berühmte Dr. Lanyon, sein Haus hatte und seine zahlreichen Patienten empfing. »Wenn überhaupt jemand, wird Lanyon es wissen«, überlegte er bei sich.
    Der feierliche Hausmeister erkannte und begrüßte ihn. Er brauchte nicht erst zu warten, sondern wurde direkt von der Haustüre in das Speisezimmer geführt, wo Dr. Lanyon allein beim Weine saß. Lanyon war ein robuster, gesunder, gepflegter Mann mit rotem Gesicht, einer Löwenmähne vorzeitig ergrauter Haare und von polterndem und entschiedenem Wesen. Sobald er Mr. Utterson erblickte, sprang er aus seinem Lehnstuhl auf und streckte ihm beide Hände zur Begrüßung entgegen. Die Herzlichkeit des Mannes wirkte etwas theatralisch, entsprang aber ehrlichem Gefühl. Denn diese zwei waren alte Freunde, alte Kameraden von Schule und Universität her, beide von hoher Selbstachtung und Achtung für den anderen, und, was damit nicht immer gleichbedeutend ist, zwei Männer, die einer an des anderen Gesellschaft aufrichtige Freude empfanden. Nach kurzem, gleichgültigem Gespräch lenkte der Anwalt auf den Gegenstand über, der seinen Geist in so unangenehmer Weise beschäftigte.
    »Ich glaube, Lanyon«, sagte er, »du und ich sind wohl die beiden ältesten Freunde, die Henry Jekyll besitzt.« »Ich wünschte, die Freunde wären jünger«, kicherte Dr. Lanyon, »aber ich denke, du hast recht. Doch was soll das? Ich sehe ihn jetzt nur selten.«
    »Wirklich?« fragte Utterson. »Ich dachte, euch verknüpften gemeinsame Interessen.«
    »Das war einmal«, lautete die Antwort, »aber es ist schon länger als zehn Jahre her, seit Henry Jekyll für meinen Geschmack zu grillenhaft wurde. Er begann auf Abwege zu geraten, auf geistige Abwege; und obgleich ich natürlich noch immer Interesse an ihm nehme, um der alten Zeiten willen, sehe ich und habe ich schon lange verteufelt wenig von dem Manne gesehen. Ein derart unwissenschaftliches Gewäsch«, fügte der Doktor plötzlich zornrot hinzu, »würde selbst Dämon und Pythias entfremdet haben.«
    Dieser kleine Temperamentsausbruch bereitete Mr. Utterson eine gewisse Erleichterung. »Sie haben sich nur wegen irgendeiner wissenschaftlichen Frage entzweit«, dachte er; und da er ohne wissenschaftliche Leidenschaft war, außer in Sachen von Zessionen, fügte er sogar hinzu: »Na, wenn es nichts Schlimmeres ist!« Er ließ seinem Freunde ein paar Sekunden Zeit, sich wieder zu fassen, und nahm dann erneut die Frage auf, derentwegen er gekommen war.
    »Ist dir jemals ein Protegé von ihm - ein gewisser Hyde - über den Weg gelaufen?« erkundigte er sich.
»Hyde?« wiederholte Lanyon. »Nein, habe nie von ihm gehört. War nicht zu meiner Zeit.«
    Das war das gesamte Ergebnis, das der Anwalt mit nach Hause brachte in das große, düstere Bett, auf dem er sich hin und her wälzte, bis die Stunden nach Mitternacht in die Morgenstunden übergingen. Es war keine Nacht, um sein grübelndes Denken zu erleichtern, sich abquälend in tiefster Dunkelheit und bestürmt von Fragen.
    Sechs Uhr dröhnte es von den Glocken der Kirche, die so angenehm nahe bei Mr. Uttersons Wohnung lag, und noch immer wühlte er in diesen Problemen herum. Bisher hatte ihn die Sache lediglich vom Standpunkte der Vernunft aus interessiert, jetzt aber war seine Einbildungskraft aufgestachelt, oder richtiger, davon gefesselt. Und wie er so dalag und sich in der tiefen Finsternis der Nacht und des verhängten Schlafgemachs hin und her warf, zog Mr. Enfields Erzählung gleich einer Reihe Bilder einer Laterna magica an seinem Geiste vorbei. Er sah vor sich die
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