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Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Titel: Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Autoren: Robert L Stevenson
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fragte der Anwalt. »Ich werde nachsehen, Mr. Utterson«, antwortete Poole und ließ den Besucher, während er noch sprach, in eine große, niedrige, komfortable Diele, mit Fliesen ausgelegt, mit kostbaren Eichenschränken ausgestattet und (nach Art eines Landhauses) von einem großen, offenen Feuer durchwärmt, eintreten. »Möchten Sie hier beim Feuer warten, Herr Rechtsanwalt, oder soll ich Ihnen im Speisezimmer Licht anzünden?«
    »Hier, besten Dank«, sagte der Anwalt. Damit trat er näher und lehnte sich gegen das hohe Kamingitter.
    Dieser Vorraum, in dem er jetzt allein blieb, war der besondere Stolz seines Freundes, des Doktors. Utterson selbst pflegte ihn als den entzückendsten Raum in ganz London zu bezeichnen. Heute nacht jedoch lebte ein Grauen in seinem Blute; das Antlitz Hydes bedrückte sein Gedächtnis. Ekel und Lebensüberdruß (und das geschah ihm selten) erfüllten ihn. In seiner verdüsterten Gemütsstimmung wollte es ihm scheinen, als bedeuteten das flackernde Kaminfeuer auf den polierten Schränken und die unruhigen, unsteten Schatten an der Decke eine Drohung. Er schämte sich fast seiner Erleichterung, als Poole rasch zurückkehrte und ihm mitteilte, daß Dr. Jekyll ausgegangen sei.
    »Ich sah Mr. Hyde durch die Tür des alten Seziersaales eintreten, Poole« sagte er, »ist das erlaubt, wenn Dr. Jekyll ausgegangen ist?«
    »Ganz in Ordnung«, erwiderte der Bediente, »Mr. Hyde besitzt einen Schlüssel.«
    »Ihr Herr scheint in den jungen Mann großes Vertrauen zu setzen, Poole«, fuhr der andere nachdenklich fort.
    »Ja, Herr Doktor, das tut er«, entgegnete Poole, »wir haben strikte Anweisung, ihm zu gehorchen.«
»Soviel ich weiß, bin ich Mr. Hyde nie hier begegnet?« erkundigte sich Utterson.
    »Oh, sicherlich nicht, Herr Doktor, er speist niemals hier«, entgegnete der Hausmeister. »Wir sehen ihn nur äußerst selten in diesem Teil des Hauses, meist kommt und geht er durch das Laboratorium.«
    »So, so, na, gute Nacht, Poole.«
    »Gute Nacht, Mr. Utterson.«
    Und mit tiefbekümmertem Herzen schritt der Anwalt nach Hause. »Armer Harry Jekyll«, dachte er dabei, »mein Herz sagt es mir, er steckt in einer schlimmen Klemme! Als er jung war, lebte er etwas wüst, das ist fraglich lange her, aber das göttliche Gesetz kennt keine zeitlichen Grenzen. Ja, das muß es sein. Das Gespenst irgendeiner alten Sünde, der Krebsfraß verborgener Schande: Die Strafe naht, pede claudo, Jahre, nachdem die Erinnerung längst erloschen ist und Eigenliebe den Fehler verziehen hat.« Und, erschrocken über diesen Gedanken, brütete der Anwalt lange Zeit über seine eigene Vergangenheit, stöberte in allen Winkeln seiner Erinnerung, ob nicht irgendein Springteufelchen einer alten Schuld ans Tageslicht hüpfen könnte. Doch seine Vergangenheit war völlig fleckenlos. Wenige Menschen konnten wohl die Rolle ihres Lebens mit so wenig Furcht studieren; dennoch fühlte er sich gedemütigt durch zahlreiche böse Dinge, die er getan hatte, und doch auch wieder von stiller, ehrfurchtsvoller Dankbarkeit erfüllt, dachte er an die vielen anderen, die ihn fast zum Straucheln gebracht und die er doch vermieden hatte. Als er sein Denken dann wieder dem früheren Gegenstande zuwandte, empfand er einen Hoffnungsschimmer. »Dieser Master Hyde«, überlegte er bei sich, »würde, wenn man sich nur mit ihm eingehend beschäftigte, wohl selbst manche Geheimnisse haben: düstere Geheimnisse, nach seinem Blick zu schließen; Geheimnisse, mit denen verglichen des armen Jekylls Schuld rein wie Sonnenschein strahlen würde. So kann die Sache nicht weitergehen; es überläuft mich kalt, wenn ich denke, daß sich diese Kreatur gleich einem Dieb an Harrys Bett schleicht; armer Harry, welch ein Erwachen! Und Gefahr droht! Wenn dieser Hyde die Existenz des Testaments wittert, könnte ihn die Ungeduld packen, das Erbe anzutreten. Ja, ich muß meine Schultern gegen das Rad stemmen - wenn Jekyll sich nur belehren ließe!« fügte er hinzu. »Wenn Jekyll das nur ließe!« Und wieder traten vor sein geistiges Auge klar wie ein Transparent die seltsamen Klauseln des Testaments.

3. Dr. Jekyll benimmt sich vollkommen unbefangen
    Vierzehn Tage danach, ein glückliches Spiel des Zufalls, gab der Doktor einigen fünf oder sechs alten Busenfreunden, lauter klugen, angesehenen Männern und Kennern guter Weine, eines seiner amüsanten Dinners. Mr. Utterson richtete es so ein, daß er noch blieb, als die anderen schon gegangen waren. Das war nichts
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