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Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Titel: Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Autoren: Robert L Stevenson
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wurde mein eigentliches Ich ein vom Fieber aufgezehrtes und ausgesogenes Geschöpf, schlaff und matt an Körper und Geist und nur von dem einen Gedanken besessen: der Angst vor meinem anderen Selbst. Und wenn ich schlief oder wenn die Wirkung der Medizin nachließ, wurde ich fast ohne Übergang (denn die Schmerzen der Transformation wurden täglich weniger fühlbar) in den Bannkreis einer mit Bildern des Schreckens überladenen Vorstellungswelt, einer von grundlosem Haßgefühl überschäumenden Seele und in einen Körper hineingerissen, der nicht stark genug schien, die tobenden Lebensenergien zu umfassen. Die Kräfte Hydes schienen mit der Schwäche Jekylls gewachsen zu sein, und der Haß, der jetzt die beiden schied, war sicher auf beiden Seiten gleich stark. Bei Jekyll war es einfacher Lebensinstinkt; er hatte jetzt die völlige Verunstaltung jenes Wesens, das mit ihm einige Bewußtseinsphänomene teilte, erkannt und war mit ihm Miterbe des Todes; und über diese Bande der Gemeinschaft hinaus, die in beider Innern den quälendsten Teil ihrer Schmerzen ausmachten, empfand er Hyde trotz seiner gewaltigen Lebenskraft nicht nur als etwas der Hölle Entsprossenes, nein, auch als etwas Unorganisches. Das war das Entsetzliche, daß diese Ausgeburt der Hölle Stimmen und Schreie zu erzeugen schien, daß dieser formlose Staub gestikulierte und sündigte, daß das, was tot war und keine Gestalt besaß, die Funktionen des Lebens usurpieren sollte. Und dann auch dieses wieder, daß dieser aufrührerische Schauder ihm fester verbunden war als ein eheliches Weib, fester als sein Auge, daß dieses Wesen eingebettet lag in seinem Fleische, wo er es murren horte und seine Anstrengung spürte, geboren zu werden. Und in jeder Stunde der Schwachheit und in der Zuversicht des Schlummers siegte es über ihn und stieß ihn aus dem Leben heraus. Der Haß Hydes gegen Jekyll war anderer Art, seine Angst vor dem Galgen trieb ihn, ständig vorübergehenden Selbstmord zu begehen und in diese untergeordnete Rolle, als ein Teil anstatt einer Person, zurückzukehren. Doch er fluchte dieser Notwendigkeit, er verfluchte die Verzweiflung, der Jekyll jetzt verfallen war, und verübelte die Abneigung, mit der man ihn betrachtete. Daher die affenähnlichen Streiche, die er mir spielte, indem er in meiner eigenen Handschrift Blasphemien auf die Seiten meiner Bücher kritzelte, Briefe verbrannte und das Bild meines Vaters vernichtete. Und wahrlich, wäre nicht seine Angst vor dem Tode gewesen, schon lange hätte er sich ins Unglück gestürzt, nur um mich mit in das Verderben zu verstricken, aber seine Liebe zum Leben ist bewundernswert. Ich gehe noch weiter! Ich, der ich krank werde und friere bei dem bloßen Gedanken an ihn: Wenn ich an diesen verächtlichen und leidenschaftlichen Lebenshang denke, und wenn ich daran denke, wie sehr er meine Macht fürchtete, durch Selbstmord auch ihm ein Ende zu bereiten, fühle ich in meinem Herzen fast Mitleid mit ihm.
    Doch es ist zwecklos - und die Zeit drängt mich auch -, diesen Bericht zu verlängern. Nie hat jemand solche Qualen erduldet. Das mag genügen. Und dennoch, selbst für diese Pein brachte die Gewohnheit - nein, keine Erleichterung -, aber sie erzeugte eine gewisse Gefühllosigkeit der Seele, ein gewisses Sichabfinden mit der Verzweiflung, und meine Bestrafung hätte sich vielleicht noch um Jahre hinausgezögert ohne diesen letzten Unglücksfall, der jetzt über mich hereingebrochen ist und der endgültig mich von meinem eigenen Antlitz und von meiner Natur geschieden hat. Mein Vorrat an dem Salz, der seit der Zeit des ersten Versuches nie erneuert worden war, begann zu schwinden. Ich sandte nach frischem Ersatz und mischte den Trank. Das Aufwallen erfolgte und auch die erste Änderung der Färbung, doch nicht die zweite. Ich trank ihn, aber die Wirkung blieb aus. Du wirst von Poole hören, wie ich ganz London abgesucht habe. Es war vergebens. Und heute bin ich überzeugt, daß mein ursprünglicher Vorrat unrein war, und daß es gerade diese unbekannte Verunreinigung war, die dem Tranke seine Wirksamkeit verlieh.
    Etwa eine Woche ist verstrichen, und unter dem Einflüsse des letzten der alten Pulver will ich jetzt diese Erklärung beenden. Dies also ist das letzte Mal, falls kein Wunder geschieht, daß Henry Jekyll seine eigenen Gedanken denken oder sein eigenes Gesicht (ach wie traurig verändert!) in dem Spiegel zu sehen vermag. Ich darf auch nicht zu lange zögern, mein Schreiben zu beenden;
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