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Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Titel: Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Autoren: Robert L Stevenson
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schlief meine Tugend; mein Böses, durch Ehrgeiz wachgehalten, saß auf dem Sprung und ergriff behende die Gelegenheit; und das Ding, das so erzeugt wurde, hieß Edward Hyde. Obwohl ich von nun ab zwei Charaktere sowohl wie zwei Erscheinungsformen besaß, war die eine gänzlich schlecht, und die andere war noch weiter der alte Henry Jekyll, jene widerspruchsvolle Mischung, die zu bessern und zu veredeln ich bereits verzweifelt aufgegeben hatte. Die Bewegung war daher einzig dem Bösen zugewandt. Selbst zu jener Zeit hatte ich meine Abneigung gegen ein trockenes Gelehrtenleben noch nicht ganz niedergekämpft. Bisweilen regte sich bei mir Genußsucht, und da meine Vergnügungen (um mich milde auszudrücken) nicht mehr ehrbarer Art waren, ich aber nicht nur allgemein bekannt und hochgeschätzt war, sondern auch anfing, ein bejahrterer Mann zu werden, wurde mir diese Gegensätzlichkeit meines Lebens von Tag zu Tag immer unangenehmer. Dies war die Stelle, an der die neue Macht mich versuchte, bis ich ihr als Sklave verfiel. Ich brauchte ja nur den Trank zu schlürfen, und sofort schwand der Körper des berühmten Professors und umhüllte sich wie mit einem dicken Mantel mit dem Körper Edward Hydes. Ich lächelte bei diesem Gedanken. Damals erschien er mir spaßhaft, und mit größter Sorgfalt traf ich meine Vorbereitungen. Ich mietete und möblierte das Haus in Soho, in dem Hyde von der Polizei gesucht wurde, engagierte als Haushälterin ein Geschöpf, von dem ich wußte, daß es verschwiegen und gewissenlos war; andererseits kündigte ich meiner Dienerschaft an, dass ein gewisser Mr. Hyde (den ich genau beschrieb) volle Freiheit und Verfügungsrecht über mein Haus an dem Platze hätte, und um unglücklichen Zufälligkeiten vorzubeugen, sprach ich dort sogar in meiner zweiten Rolle vor und machte mich allen zu einer vertrauten Erscheinung. Das nächste war, daß ich jenes Testament aufsetzte, das du so heftig bekämpftest, damit, falls mir in der Person Dr. Jekylls etwas zustieß, ich ohne pekuniäre Verluste als Edward Hyde in seine Rechte eintreten konnte. So, wie ich annahm, nach jeder Seite hin gesichert, fing ich an, aus meinem sonderbaren Privileg Nutzen zu ziehen.
    In alten Zeiten mieteten Menschen Bravos, um ihre Verbrechen auszuführen, während ihr Ruf und ihre eigene Person in Sicherheit blieb. Ich war der erste, der dieses tat, um seinen Lüsten zu frönen. Ich war der erste, der so in den Augen der Öffentlichkeit, beladen mit dem Rufe einer heiteren Achtbarkeit, dahinschreiten konnte, um in einem Augenblick, gleich einem Schulbuben, diese Fessel abzustreifen und mich in das Meer freier Ungebundenheit zu stürzen. Dank meiner undurchdringlichen Maske war die Sicherheit vollkommen. Bedenke - ich existierte ja nicht einmal! Laß mich nur hinter meine Laboratoriumstür schlüpfen, gewähre mir eine oder zwei Minuten Zeit, den Trank, der stets bereitstand, zu mischen und hinunterzuschlucken, und was er auch immer verübt hatte, Edward Hyde schwand dahin gleich dem Hauch des Atems auf einer Spiegelfläche. Und an seiner Stelle saß ruhig in seinem Heime ein Mann und putzte die mitternächtliche Lampe in seinem Arbeitszimmer, ein Mann, der sich gestatten konnte, über jeden Argwohn zu lächeln - Henry Jekyll.
    Die Vergnügungen, denen ich in meiner Vermummung nachjagte, waren, das hab' ich bereits erwähnt, unwürdiger Art. Eine härtere Bezeichnung ließe sich kaum rechtfertigen. Aber in den Händen Edward Hydes erhielten sie bald ein monströses Ansehen. Wenn ich von diesen Ausflügen heimgekehrt war, setzte mich die tiefe Verderbtheit meines Stellvertreters oft selbst in Erstaunen. Dieser dienstbare Geist, den ich aus meiner eigenen Seele emporrief und allein aussandte, seinen Freuden nachzugehen, war ein durch und durch boshaftes, schändliches Geschöpf. All seine Taten und Gedanken hatten nur sein eigenes Selbst zum Mittelpunkte. Mit bestialischer Gier schlürfte er aus jeder Art Qual eines anderen seine Lust, mitleidlos, wie ein Mann von Stein. Entgeistert stand Henry Jekyll bisweilen vor Edward Hydes Taten. Aber dessen Stellung lag außerhalb des gewöhnlichen Gesetzes und zerstreute heimtückisch die Bedenken des Gewissens. Es war Hyde, trotz allem, und Hyde allein, der sich mit Schuld belud. Jekyll wurde dadurch nicht schlechter, anscheinend ungeschwächt erwachten wieder und wieder seine guten Eigenschaften. Wo es möglich war, eilte er sogar, das Böse, das Hyde getan, ungeschehen zu machen. So
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