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Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Titel: Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Autoren: Robert L Stevenson
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Gebiete der Moral, an meiner eigenen Persönlichkeit, lernte ich die absolute, unergründliche Zwiespältigkeit im Menschen erkennen. Ich sah, daß, wenn ich auch von den beiden Naturen, die im Bereiche meines Bewußtseins miteinander im Kampfe lagen, mit Grund behauptete, die eine zu sein, dies lediglich deswegen geschehen konnte, weil ich wahr und wahrhaftig beide war. Schon sehr zeitig, sogar noch ehe der Verlauf meiner wissenschaftlichen Entdeckung angefangen hatte, auch nur die bloße Möglichkeit eines solchen Wunders in Betracht zu ziehen, vertiefte ich mich gern in angenehmen Wachträumen in den Gedanken einer Trennung dieser Elemente. Ich sagte mir, daß, falls es gelänge, jede dieser beiden Naturen in gesonderte Persönlichkeiten zu verpflanzen, das Leben von all dem, was jetzt unerträglich war, befreit sein würde. Der Ungerechte könnte seinem Wege folgen, befreit von den Aspirationen und Gewissensbissen seines rechtschaffenen Zwillingsbruders, und der Gerechte könnte fest und sicher seinen aufwärtsführenden Pfad schreiten, das Gute tun, das seine Freude bildet, fürder nicht mehr Schande und Strafe ausgesetzt durch die Hand dieses ihm wesensfremden Bösen. Es war der Fluch der Menschheit, daß diese inkongruenten Teile so miteinander verbunden waren - daß in dem qualdurchzuckten Schöße des Bewußtseins diese einander feindlichen Zwillinge ständig im Kampfe liegen mußten. Was würde geschehen, wären sie geschieden? So weit war ich in meinen Überlegungen gediehen, als von der Platte des Experimentiertisches ein Lichtschein auf dieses Problem zu fallen begann. Klarer, als es bisher je ein Mensch erkannt hatte, begann ich die Zufälligkeit und Unwesentlichkeit, die nebelhafte Körperlichkeit dieses scheinbar so festgefügten Leibes, mit dem bekleidet wir hier auf Erden wandeln, zu begreifen. Ich entdeckte, daß gewisse Agenzien die Macht hatten, die fleischliche Einkleidung zu erschüttern und zurückzustoßen, gerade wie der Wind die Vorhänge eines Pavillons zu teilen vermag. Aus zwei stichhaltigen Gründen will ich mich nicht tiefer auf die wissenschaftliche Seite meiner Beichte einlassen: erstens, weil ich die Erfahrung machen mußte, daß unseres Lebens Fluch und Bürde von Ewigkeit zu Ewigkeit im Schicksalsbuche verzeichnet stehen, und wenn man auch den Versuch macht, seinem Schicksal zu entfliehen, es packt uns doch wieder, nur noch unbarmherziger und mit noch grausamerem Griff; zweitens, weil meine Entdeckung, wie mein Bericht, ach, nur allzu evident zeigen wird, unvollständig war. Genug denn, ich erkannte meinen Körper nicht nur als reine Ausstrahlung und als einen Abglanz gewisser Kräfte, die mein geistiges Ich bildeten, sondern es gelang mir auch, ein Mittel herzustellen, mit dessen Hilfe diese Kräfte ihrer Oberhoheit entledigt wurden und in neuer Form und Gestalt auftraten, meinem Ich nicht weniger natürlich, weil sie der Ausdruck waren und den Stempel trugen der niedrigeren Machte meiner Seele.
    Lange zögerte ich, bevor ich diese Theorie einer praktischen Probe unterzog. Ich wußte wohl, daß ich mein Leben wagte; denn eine Droge, die so übermächtig die starke Festung der Identität beherrschte und erschütterte, konnte, war die Dosierung auch nur um die geringste Kleinigkeit zu stark oder bei der leisesten Indisposition im Augenblick der Durchführung, von Grund aus dieses immaterielle Tabernakel, das ich zu verändern beabsichtigte, zerstören. Endlich aber siegte das Verführerische einer Entdeckung, so einzigartig, so inhaltsschwer, über alle Besorgnis. Lange stand meine Tinktur bereit. Ich kaufte einst von einer chemischen Fabrik eine erhebliche Quantität eines besonderen Salzes, das, wie ich nach meinen Experimenten wußte, das letzte erforderliche Ingrediens darstellte, und spät, in einer verfluchten Nacht, mischte ich diese Elemente, überwachte ihr Kochen und Brodeln in der Retorte, und als das Aufwallen nachgelassen hatte, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und stürzte die Arznei hinunter.
    Quälendste Todesangst folgte; ein Reißen in den Knochen, tödliche Übelkeit und ein Angstgefühl, wie es in der Stunde der Geburt oder des Todes nicht größer sein kann. Dann begann diese Qual langsam zu weichen, und ich kam wieder zu mir mit einem Gefühl, als erwachte ich aus schwerer Krankheit. Es war etwas Fremdartiges in meinem Empfinden, etwas unbeschreiblich Neues und, dank dieser völligen Neuheit, unsagbar Süßes. Ich fühlte mich jünger, leichter,
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