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Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Titel: Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Autoren: Robert L Stevenson
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verstrichen. Ich kann auch nicht sagen, daß ich dieses wohltätigen und unschuldigen Lebens müde wurde. Ich glaube vielmehr, daß es meine tägliche Freude war, es immer noch vollkommener zu gestalten. Aber noch immer lagerte der Fluch zwiefachen Wollens auf mir, und als die erste Heftigkeit meiner Reue nachließ, fing der gemeinere Teil meines Wesens, so lange verhätschelt, so kurz erst in Ketten gelegt, grollend an, die Freilassung zu begehren. Nicht daß ich von einem Wiederaufleben Hydes träumte, der bloße Gedanke hätte mich dem Wahnsinn in die Arme getrieben. Nein, in meiner eigenen Gestalt regte sich wieder die Versuchung, mit meinem Gewissen zu spielen, und, ein gewöhnlicher geheimer Sünder, erlag ich schließlich dem Ansturm der Versuchung.
    Alles treibt dem Ende entgegen; das größte Maß wird endlich voll, und dieser kurze Abstieg zu dem bösen Ende zerstörte endgültig das Gleichgewicht meiner Seele. Dennoch war ich nicht beunruhigt. Der Fall schien natürlich wie eine Rückkehr zu den alten Tagen, bevor ich meine Entdeckung gemacht hatte. Es war ein schöner, klarer Tag im Januar, der Boden, wo es getaut hatte, feucht, aber der Himmel wolkenlos. Regent's Park war voll von winterlichen Sängern, und Vorfrühlingshauch lag in der Luft. Ich saß im Sonnenschein auf einer Bank, die Bestie in mir leckte beim Erinnern die Lippen, mein geistiges Ich nickte ein wenig ein und versprach spätere Reue, tat aber nichts, um schon jetzt damit zu beginnen. Alles in allem, überlegte ich, war ich doch genau wie meine Mitmenschen, ja ich lächelte, wenn ich mich mit anderen verglich, wenn ich mein aktives Wohlwollen verglich mit der lässigen Grausamkeit ihrer Gleichgültigkeit. Im gleichen Moment, da diese hochmütigen Gedanken mir durch den Kopf zogen, überkam mich ein Schwächeanfall, eine furchtbare Übelkeit, und Todesschauer durchrannen meinen Körper. Das ging vorüber, und halb ohnmächtig saß ich da. Und dann, als auch diese Schwäche nachließ, begann ich mir einer Veränderung in der Art meiner Gedankengänge bewußt zu werden, einer größeren Kühnheit, einer Verachtung der Gefahr, einem Losgelöstsein von allen Fesseln der Pflicht. Ich blickte herunter: Formlos hingen meine Kleider um meine zusammengeschrumpften Glieder. Die Hand, die auf meinem Knie lag, war welk und haarig. Ich war wieder einmal Edward Hyde. Einen Moment vorher hätte ich der Achtung aller Menschen sicher sein können, ich war reich, wurde geliebt -sauber ausgebreitet lag das Tischtuch zu Hause in meinem Speisezimmer -, und jetzt war ich nur eine Jagdbeute für die Menschheit, gehetzt, heimatlos, ein verrufener Mörder auf dem Wege zum Galgen.
    Mein Verstand geriet ins Wanken, aber er verließ mich doch nicht. Mehr als einmal habe ich die Beobachtung gemacht, daß in meinem zweiten Charakter alle meine Fähigkeiten bis zum äußersten geschärft schienen und meine Geisteskräfte elastischer waren; so kam es, daß dort, wo Jekyll vielleicht versagt hatte, Hyde sich ganz zur Höhe des Augenblicks aufschwang. Meine Medizin befand sich in einem der Schränke meines Arbeitszimmers. Wie konnte ich sie erreichen? So lautete das Problem, an dessen Lösung (die Schläfen in meinen Händen vergraben) ich mich jetzt machte. Die Laboratoriumstür hatte ich verschlossen. Wenn ich versuchte, durch das Haus hineinzugelangen, meine eigene Dienerschaft würde mich dem Galgen übergeben. Ich begriff, ich mußte eine andere Hand verwenden und dachte an Lanyon. Wie aber konnte ich ihn erreichen, wie ihn überreden, vorausgesetzt, daß ich einer Gefangennahme in den Straßen entging? Wie sollte ich es anstellen, bis zu ihm vorzudringen, und wie sollte ich, ein Unbekannter und unerwünschter Besucher, den berühmten Arzt dazu überreden, das Arbeitszimmer seines Kollegen Dr. Jekyll zu plündern? Dann fiel mir ein, daß mir ja eine Eigenschaft meines eigentlichen Charakters verblieben war: Ich konnte mit meiner eigenen Handschrift schreiben. Kaum war mir dieser freundliche Lichtschein aufgeblitzt, da lichtete sich auch schon vor mir der Weg, dem ich folgen mußte. Ich ordnete meine Kleider, so gut es ging, rief eine vorüberfahrende Droschke an und fuhr nach einem Hotel in Portland Street, dessen Name mir zufällig einfiel. Bei meinem Anblick (der in der Tat komisch genug war, welch tragisches Schicksal diese Kleider auch deckten) vermochte der Kutscher seine Heiterkeit nicht zu unterdrücken. Mit fletschenden Zähnen fuhr ich in teuflischer Wut auf
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