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Der Schuldige: Roman (German Edition)

Der Schuldige: Roman (German Edition)

Titel: Der Schuldige: Roman (German Edition)
Autoren: Lisa Ballantyne
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du dir die Zähne putzt.«
    »Mach ich nicht«, sagte er. »Ich will’s behalten. Es gefällt mir.«
    »Gut, das kann ich verstehen. Wenn du vorsichtig bist, kannst du ein paar Tage darauf aufpassen, aber dann würde ich dich bitten, es wieder auf das Bord im Badezimmer zurückzulegen, wo wir beide uns daran erfreuen können. Überleg mal, es sind nur zwei Tage, eine besondere Gunst für dich, weil das hier dein neues Zuhause ist und ich möchte, dass du hier heimisch wirst. Aber in zwei Tagen werde ich es zurückfordern, wenn du es noch nicht zurückgelegt hast.«
    So war mit Daniel noch nie geredet worden. Er war sich nicht sicher, ob sie sauer war oder ihm nachgab. Von der Anstrengung, sich aufzurichten, taten ihm die Ellbogen ein bisschen weh.
    Sie zog ihre Strickjacke enger um sich und ging aus dem Zimmer. Der Geruch von Zitronensaft schwebte hinter ihr her.

3
    Am Morgen stand Daniel um halb sechs auf und lief eine Zehn-Meilen-Runde um den Victoria Park und South Hackney. Gewöhnlich joggte er unter der Woche nicht, aber heute brauchte er es. Normalerweise benötigte er dafür eine Stunde zwölf, aber wenn er sich anstrengte, schaffte er es inzwischen in einer Stunde fünf. Er bemühte sich, jedes Jahr mindestens eine Minute schneller zu werden. In dieser Leistung lag eine gewisse Todesverachtung.
    Laufen war für Daniel natürlicher als die meisten anderen Dinge; Flucht erschien oft als der logischste Weg.
    Er hatte nicht geschlafen, aber er bemühte sich, die Zeit einzuhalten. Beim Laufen konzentrierte er sich auf verschiedene Muskeln. Er spannte seinen Oberkörper an und spürte, wie er sich von einer Seite zur anderen drehte. Als er bergauf lief, konzentrierte er sich auf seine Schenkel und den Druck in ihnen, während er das Tempo hielt. Er lebte nun schon fast acht Jahre in dieser Gegend im East End und kannte jeden Zentimeter des Parks, den er von seinem Schlafzimmerfenster aus sehen konnte. Er kannte alle Baumwurzeln, die den Weg holperig machten wie knochige Finger. Er kannte die Stellen, die im Sommer kühl waren, und die Strecken, die im Winter eisig sein konnten. Er kannte die Gegenden, die bei Regen überschwemmt waren.
    Hin und wieder kamen ihm Gedanken. Wenn er sie verscheuchte, bemerkte er, dass sie ihn hatten langsamer werden lassen.
    Als er jetzt in Richtung Wohnung lief, musste er wieder an den Brief denken. Er konnte nicht glauben, dass sie wirklich tot war.
    Tot . Er stieß mit dem Fuß gegen einen Stein und machte einen Satz vorwärts. Außerstande, sich zu fangen, stürzte er der Länge nach hin, wobei er sich das Knie aufschürfte und Unterarm und Handballen schrammte, die zu bluten begannen.
    »Scheiße«, sagte er laut und rappelte sich hoch.
    Ein alter Mann mit einem übergewichtigen Labrador tippte, um Daniel zu grüßen, mit dem Finger gegen seinen Hut. »Alles in Ordnung, mein Sohn? Ganz schön hingeknallt. Das Licht ist immer komisch um diese Tageszeit.«
    Er atmete zu heftig, um zu antworten, aber er versuchte, dem Mann zuzulächeln, und hob eine Hand, um ihm zu zeigen, dass alles in Ordnung war. Er wollte den Lauf fortsetzen, aber Blut lief ihm von seiner Hand am Arm entlang. Notgedrungen joggte er über die Old Ford Road und die cremefarbene Steintreppe vor seiner Wohnung nach oben.
    Daniel duschte und verband seine Hand, dann zog er sich ein rosa Oberhemd mit weißem Kragen und weißen Manschetten über. Die Wunde an seiner Hand pochte, als er seine Manschettenknöpfe befestigte. Er holte tief Luft. Seitdem er den Jungen getroffen und den Brief erhalten hatte, waren die Stunden nur so verflogen. Er schaute in den Spiegel und zog die Schultern zurück, um einen klaren Kopf zu bekommen. Er wollte heute nicht über den Brief nachdenken. Er fühlte sich so, wie er sich als Kind gefühlt hatte: verwirrt, geistesabwesend, nicht sicher, wie das alles angefangen hatte oder warum es in die Brüche gegangen war.
    Daniel hatte mit Charlotte verabredet, dass sie sich im Haus der Crolls treffen und dann zusammen zum Polizeirevier gehen würden. Es erschien ihm merkwürdig, dass sie nicht aufgewacht war, als die Polizei ihren kleinen Sohn mitgenommen hatte, und er wollte die Gelegenheit ergreifen, mit ihr darüber zu sprechen.
    Der Richmond Crescent strahlte in der Augustsonne: schmucke Schiebefenster leuchteten über schneeweißen Simsen. Daniel stieg die Treppe zu der Haustür hinauf und lockerte seine Krawatte. Die Klingel war in Porzellan gefasst, das mit Blumen bemalt war. Daniel
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