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Der Schreiber von Córdoba

Der Schreiber von Córdoba

Titel: Der Schreiber von Córdoba
Autoren: Melanie Little
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Seele war ich selbstgefällig.
    Ich dachte, um ein so furchtbares Schicksal zu erleiden,
    das ihm von Männern in schönen Gewändern zugedacht wurde,
    müsste ein Mensch es doch sicherlich verdient haben.
    Heute schäme ich mich dafür, wie blind ich war.
    Hier ist ein Fall.
    Eine Frau von sechzig Jahren.
    Sie kam letzten Monat. Ich erinnere mich,
    dass sie kaum etwas besaß, außer einer alten Wolldecke,
    von der sie sagte, sie habe ihrem Vater gehört.
    Von einer Nachbarin denunziert, stand in ihrer dünnen Akte.
    Ihr Verbrechen?
    Dass sie an einem Karfreitag Fleisch gegessen hatte,
    als beide noch Mädchen waren.
    Dieses Vergehen war fünfzig Jahre her!
    Noch etwas: Man wusste, dass die beiden Frauen Rivalinnen waren.
    Beide verkauften ihr Bier in derselben Marktstadt.
    Wer will wissen, ob die Denunziantin
    die andere nicht nur aus dem Weg haben wollte?
    Die Frau wurde heute verurteilt.
    Sie hat nicht gestanden.
    Und so wird sie, schuldig oder unschuldig, verbrannt werden.
      
    Briefe
    Ich werfe meinem Papa nicht vor,
    dass er mich jetzt hasst.
    Er hat mir oft gesagt:
    Sei immer wahrhaftig.
    Und seht, wie ich das Können nutze,
    das er mir beigebracht hat.
    Die einzige Kunst hier
    sind die Lügen des Offiziums.
    Ich schicke Briefe nach Hause
    und kleine Summen, die ich sparen kann.
    Aber von Papa bekomme ich nie
    auch nur ein Wort zurück.
    Papa weiß, dass ich etwas
    nötig von ihm brauche, nämlich die Worte:
    Ich verzeihe dir.
    Und da er das nicht sagen
    und dennoch wahrhaftig sein kann,
    schreibt er nicht zurück.
    Dennoch richte ich all meine Briefe
    an beide, Mama und ihn. Ich gebe nicht auf.
    Ich werde einen Weg finden,
    ihm das Verzeihen zu erleichtern.
      
    Einen Schreiber finden
    Mama kann mir natürlich
    nicht zurückschreiben.
    Sie hat viel zu tun, das weiß ich.
    Außerdem ist da die Frage,
    wie sie einen Schreiber finden soll, dem sie vertrauen kann –
    und der nicht das Blaue vom Himmel herunter verlangt.
    Papa wäre niemals bereit,
    für sie zu schreiben: Das weiß ich.
    Zum allerersten Mal
    wünschte ich, Frauen würden,
    wie wir Männer, schreiben lernen.
    Es gibt Nächte, in denen ich mich so
    nach Nachrichten von zu Hause sehne,
    dass ich meine Schreibhand abhacken würde,
    wenn Mama sie bekommen und statt meiner
    benutzen könnte.
      
    Vertrauen
    Man sollte immer vorsichtig sein
    mit seinen Wünschen.
    Nein, ich bin nicht ohne meine Finger erwacht.
    Aber ein Bote klopft, als ich noch im Bett liege.
    Ein Brief für mich.
    Mama hat endlich selbst eine Hand gefunden.
    Sei nicht darüber beunruhigt, wie viel
    ich in diesem Brief sage , beginnt sie.
    Dieser Schreiber ist ein Freund. Ich glaube,
    wir können ihm vertrauen.
    Daneben steht, an den Rand
    geschrieben: Ihr könnt.
      
    Wasser
    Ramón , fährt sie fort,
    Papa geht es nicht gut.
    Seine Augen werden
    mit der Zeit immer schlechter.
    Und dann das Zittern,
    das er noch immer abstreitet.
    Selbst wenn es nur eine kleine Arbeit ist,
    kann er sie nicht zu Ende bringen.
    Seine Hand ist zu schwach, um die Feder zu halten.
    Danke für das Geld für eine Brille.
    Was für eine Erfindung muss das sein!
    Wir brauchten es leider, um Señor Ortiz zu bezahlen. Tut mir leid, Ramón.
    Er hat unsere Miete wieder erhöht.
    Ich sollte es dir nicht sagen – aber auch unser Hausherr ist Neuchrist.
    Sein »nicht-jüdisches Blut« reicht fünf Generationen zurück,
    aber ihm ist das nicht weit genug.
    Er will, dass Papa seine Papiere fälscht,
    sodass sie vorgeben, er sei rein! Kannst du dir vorstellen,
    dass dein Papa so etwas macht?
    Letzte Woche zitterte Papas Hand
    und stieß die Wasserschale um,
    die er zur Vergrößerung der Schrift benutzt.
    Die Tinte zerfloss. Ich fand ihn, Ramón,
    in Tränen über seiner Arbeit.
    Mein Sohn, bete für deinen Papa.
    Er wäre vielleicht böse auf mich,
    weil ich dir das sage,
    aber jeden Abend, wenn er betet,
    betet er auch für dich.
      
    Amsel-Pastete
    Mamas Brief bewirkt, dass ich mich
    etwa so klein wie ein Tannenzapfen fühle.
    Aber wir haben ein Festmahl zu Ehren
    von irgendetwas –
    wurde eine Schlacht gewonnen? Ein Feind
    der Kirche auf dem Scheiterhaufen verbrannt?
    Wer weiß?
    Das üppige Essen und der gute Wein
    verdrängen die Gedanken an alles andere.
    Wir schneiden unsere Pasteten auf – es gibt
    für jeden Mann eine – und lebendige Amseln fliegen heraus,
    schreiend wie verrückt.
    Es ist genau wie die Festmahle in Geschichten,
    die ich einst in unserer Werkstatt abschrieb.
    Ich erinnere mich,
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