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Der Schneider himmlischer Hosen

Der Schneider himmlischer Hosen

Titel: Der Schneider himmlischer Hosen
Autoren: Daniele Varè
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umgab mich jetzt, da ich neben Elisalex saß, in einem Schlafwagenabteil auf dem Rangierbahnhof zu Charbin. Nun erkannte ich, daß er ein Verbindungsglied zwischen Elisalex und dem Abt bildete, dem Fürsten Dorbon Oirad, an den ihr Brief gerichtet war. Der Duft hätte mir erklären können, warum sie nach Peking kam: um dem Fürsten nahe zu sein.
    Ich war blind und blöde gewesen. Aber zu meiner Entschuldigung darf ich eines anführen: meine Fähigkeiten hatten gelitten, weil ich mit den Gedanken anderswo war. Die ganze Zeit über dachte ich an Kuniang, und nur an Kuniang. Kann ein Mann Rätsel lösen, dessen Gedanken in Liebe versunken sind?
    Nun starrte ich Elisalex an, versteinert vor Staunen, betäubt wie nach einer Explosion. Minuten vergingen, bis ich mich einigermaßen gefaßt hatte, und selbst dann brachte ich nichts hervor als die alberne Frage:
    «Er ist es also gewesen, der Paul träumen ließ?»
    «Jawohl. Von unserem gemeinsamen Leben.»
    Ihr gemeinsames Leben! Jetzt wurde mir alles klar. Denn in der Hand hielt ich die Photographie jenes Mannes, dessen Dasein Paul nachgelebt hatte, nahezu Tag für Tag. Und neben mir, im Abteil des Waggons, saß die Frau, deren Rolle im Traum Kuniang spielte: das junge Mädchen, das dem Einfluß Rasputins erlegen war; das einen mongolischen Fürsten geliebt und in dessen entlegene östliche Provinz begleitet hatte. Die Geschichte jener Frau und der Traum waren eines, und beide waren wahr. Und Elisalex saß da und sah mich an und lächelte mir zu durch den Rauch ihrer Zigarette.
     
     
     

4
     
    Ich gab Elisalex die Photographie zurück und wies mit dem Finger auf den Abt, der neben der Braut stand.
    «Können Sie mir mehr von ihm erzählen?»
    «Eine Menge. Aber ich glaube nicht, daß Sie ihn dann besser verstehen werden. Ich weiß manches von seinen Zielen, etwas von seiner Philosophie und viel von dem Mann, der sich hinter beiden verbirgt. Und doch bleibt er in vieler Beziehung auch mir ein Rätsel.»
    «Hat er wirklich ein Königreich erobert, wie zum Beispiel Semenow?»
    «Ja, dieses Königreich existiert. Wie ich Kuniang heute sagte — das existiert sogar seit je. Es ist der einzig unberührte Fleck auf Erden: grasbewachsene Ebene am Rand der Wüste, Tundra und Steppe. Semenow und Koltschak samt seinem Baron Ungern, die allgemach von sich reden machen, sind bloß Herrscher für den Augenblick. Die mongolischen Fürsten aber saßen dort noch vor Dschingis-Khan, ihre Lieder stammen aus den Zeiten Ogotais und Tamerlans. Sie haben keinen festen Wohnsitz, aber ihnen gehört das Hochland Asiens, auch wenn die Standarten Rußlands oder Chinas über ihren Besitztümern wehen.»
    «Als wir Ihren Fürsten in Peking sahen», wandte ich ein, «erzählte man uns doch von Klöstern, die ausgeplündert und niedergebrannt worden seien. Er wollte Geld auftreiben, um sie wieder aufzubauen. Ist das nicht wahr?»
    «Nur allzuwahr, das kann man wohl sagen. Und Geld ist immer nützlich. Doch nicht darauf kommt es an. Zwar haben die Räuberbanden aus dem Norden immer viel zu schaffen gegeben, und nun sind sie durch entlaufene chinesische Soldaten noch verstärkt. Die wirkliche Gefahr aber liegt anderswo. Was ist die Plünderung von ein paar Klöstern für ein Volk, dessen Ahnen die Städte zweier Weltteile gebrandschatzt haben? Mein Fürst, wie Sie ihn nennen, kämpft darum, seinem Land die wahre Unabhängigkeit zu erhalten. Der Feind ist nicht der Tung-hudze, nicht der Chinese oder Russe, nicht einmal der Japaner, der durch die Mandschurei vorstößt. Der Feind ist die Zivilisation. Sie bedroht die alte Abgeschiedenheit, die geistige Freiheit. Ich glaube kaum, daß ein Mensch, der nicht auf dem Dach der Welt gelebt hat, sich ausmalen kann, welches Grauen das Übergreifen der Moderne für ein Land bedeutet, das vom Anfang an für sich allein gestanden und vom Vordringen des sogenannten Fortschrittes unberührt geblieben ist.»
    «Das kann nur ein Mensch verstehen», erwiderte ich, «der die Natur liebt, selbst dort noch, wo sie uns abstößt, ein Mensch, der die Einsamkeit liebt.»
    «Viele Leute werden das sicher beschränkt nennen. Ich habe diesen Gedanken einmal recht unterhaltend ausgedrückt gefunden, in einem russischen Buch namens Dal Zovjot, das bedeutet: . Der Autor heißt Golenischtschew-Kutuzow und erzählt von einem Mann in der nördlichen Mongolei, der jeden Morgen seine Jurte verläßt, um die freie Luft der Steppe zu atmen und ihre
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