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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig
Autoren: Georges Simenon
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Treppen hochzusteigen, um sich die Nägel pflegen zu lassen.
    Man wußte nicht nur in der Straße, sondern sozusagen in der ganzen Stadt, daß es hinter dem Salon Zimmer gab.
    Der Eunuch, der zur Polizei der Besatzungsmacht gehörte, mußte es auch wissen.
    »Du wirst sehen, er kommt!«
    Lotte brauchte nur einen Mann vom Fenster des dritten Stocks aus zu sehen, um sagen zu können, ob er heraufkommen würde oder nicht. Sie konnte sogar die Zeit voraussagen, die er für seine Entscheidung benötigte, und sie täuschte sich selten.
    Eines Sonntagmorgens – weil er an den anderen Tagen Dienst hatte – war der Eunuch tatsächlich gekommen, sehr verlegen und wie mit schlechtem Gewissen. Frank war gerade nicht da, und er hatte es bedauert, daß er nicht hatte auf den Küchentisch klettern und durch das Guckfenster zusehen können.
    Man hatte es ihm haargenau erzählt. An jenem Tag war nur Steffie anwesend, ein langes Reff mit grauer Haut, die nichts weiter konnte, als sich hinlegen, die Beine spreizen und dabei zur Decke starren.
    Der Unteroffizier war zweifellos enttäuscht gewesen, weil sich mit Steffie nichts anfangen ließ. Sie war nicht einmal imstande, die Geschichten anzuhören, die man ihr erzählte.
    »Mit dir ist nichts los«, sagte Lotte oft zu ihr.
    Der Eunuch hatte sich die Sache gewiß anders ausgemalt. Vielleicht war er wirklich impotent. Jedenfalls war er niemals mit einer Frau von Timo fortgegangen.
    Vielleicht befriedigte er sich selbst, ohne daß es jemand merkte, während er den Frauen unter die Röcke fuhr. Das war möglich. Bei Männern war alles möglich, wie Frank wußte, seit er vom Küchentisch aus durch das Guckfenster zusah.
    War es nicht natürlich, daß ihm der Gedanke kam, da er eines Tages jemanden würde umbringen müssen, es bei dem Eunuchen zu versuchen?
    Er mußte schließlich das Messer, das man ihm eben in die Hand geschoben hatte und das wirklich eine schöne Waffe war, zu etwas benutzen. Auch wenn man es nicht wollte, reizte es einen, es auszuprobieren, die Wirkung auszukosten, wenn man es jemandem zwischen die Rippen stieß.
    Es gibt einen Trick, den man ihm erklärt hatte: die Hand leicht drehen wie bei einem Schlüssel in einem Schlüsselloch, sobald die Schneide in das Fleisch eingedrungen ist.
    Auf dem Tisch lag das Koppel mit dem schweren glänzenden Revolver in seiner Tasche. Was kann man nicht alles mit einem Revolver machen! Und was für ein Mensch wird man dann automatisch!
    Außerdem war da dieser vierzigjährige Berg, ein Freund von Kromer, jemand also, dessen man sicher sein konnte, der zweifellos etwas darstellte und dem gegenüber man von ihm gewiß wie von einem Jungen gesprochen hatte.
    »Leih es mir nur für eine Stunde, und ich weihe es ein. Du kannst dich darauf verlassen, ich komme dann mit einem Revolver wieder!«
    In diesem Augenblick war das nichts Außergewöhnliches. Frank wußte genau, wo er ihm auflauern konnte. In der Grüngasse, durch die der Eunuch kommen mußte, wenn er vom alten Bassin zu der Straße, durch die die Straßenbahn fuhr, ging, stand ein altes Gebäude, das immer noch die Gerberei hieß, obwohl dort schon seit fünfzehn Jahren nichts mehr gegerbt wurde. Die Leute behaupteten, zu der Zeit, da sie für die Armee arbeitete, habe sie bis zu sechshundert Arbeiter beschäftigt.
    Jetzt standen bloß noch nackte Mauern mit hohen Fenstern wie in einer Kirche, die erst sechs Meter über dem Boden begannen und deren Scheiben alle zerbrochen waren.
    Eine finstere Sackgasse, kaum einen Meter breit, trennte die Gerberei von den übrigen Häusern.
    Die nächste Gaslaterne – die ganze Stadt war voll von verbogenen oder umgerissenen Gaslaternen – brannte weit davon an der Straßenbahnhaltestelle.
    Es war also ganz einfach und nicht ein bißchen erregend. Er lehnte dort in der Sackgasse an der Ziegelmauer der Gerberei, und bis auf das schrille Pfeifen der Züge jenseits des Flusses war alles ringsum still. In keinem Fenster brannte Licht. Die Leute schliefen. Er sah nur ein kleines Stück der Straße, so wie er sie von jeher während der Wintermonate kannte: auf den Bürgersteigen bildete der Schnee zwei graue Wälle, einen vor den Häusern, einen am Fahrdamm. Dazwischen ein schmaler schwarzer Pfad, auf den die Leute Sand, Salz oder Asche gestreut hatten. Vor jeder Tür kreuzte diesen Pfad ein anderer Pfad, der auf den Fahrdamm führte, wo mehr oder weniger tiefe Räderspuren im Schnee zu sehen waren.
    Alles ganz einfach.
    Den Eunuchen töten
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