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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig
Autoren: Georges Simenon
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verachtete sie. Nur selten grüßte ihn einmal jemand.
    Holst grüßte ihn auch nicht, aber er grüßte überhaupt niemanden. Nicht aus Stolz. Vielmehr aus Bescheidenheit, oder weil die Leute ihn nicht interessierten, weil er mit seiner Tochter in einer kleinen abgeschlossenen Welt lebte und nicht das Verlangen spürte, sie zu verlassen. Es gibt solche Menschen. Es hat nicht einmal etwas Geheimnisvolles.
    Vielleicht war es reine Kinderei, daß Frank hustete. Holst hatte keine Angst. Er verlangsamte auch nicht den Schritt. Er dachte bestimmt nicht daran, daß man ihm in dieser Sackgasse auflauern könnte. Auch das war ziemlich seltsam, denn schließlich lehnte sich ein Mann nicht ohne Grund bei zwanzig Grad unter Null mitten in der Nacht an eine Mauer.
    Als Holst einen Augenblick seine Taschenlampe auf Frank richtete, nur so lange, daß er sein Gesicht sehen konnte, machte sich Frank nicht einmal die Mühe, seinen Mantelkragen hochzuschlagen und den Kopf abzuwenden. Er blieb unbeweglich stehen, mit der nachdenklichen und entschlossenen Miene, die er immer hat, selbst wenn er nur an belanglose Dinge denkt.
    Holst hat ihn gesehen und erkannt. Er hat nur noch hundert Meter zu gehen, dann ist er zu Hause. Er wird den Hausschlüssel aus seiner Tasche ziehen, denn seiner Nachtarbeit wegen ist er der einzige Mieter, der einen Hausschlüssel besitzt.
    Morgen wird er aus den Zeitungen oder in einer Schlange vor irgendeinem Laden erfahren, daß der Unteroffizier vor der Sackgasse ermordet worden ist. Er wird also Bescheid wissen.
    Was wird er tun? Die Besatzungsmacht wird eine Prämie aussetzen, wie sie es immer tut, wenn es sich um jemand aus ihren Reihen handelt, und erst recht, wenn es kein einfacher Soldat ist. Holst und seine Tochter sind arm. Sie essen gewiß höchstens alle vierzehn Tage einmal Fleisch, und meistens sind es dann auch bloß Abfälle, die mit Steckrüben gekocht werden. Durch die Gerüche, die durch die Türen dringen, weiß man, was die Leute in jeder Wohnung essen. Was wird Holst tun?
    Bestimmt ist er nicht entzückt darüber, daß Lotte ihrem dunklen Gewerbe genau seiner Tür gegenüber nachgeht, zumal Sissy den ganzen Tag zu Hause verbringt.
    Wäre es nicht eine günstige Gelegenheit, Lotte und Frank loszuwerden?
    Trotzdem hat Frank gehustet und denkt nicht einen Augenblick daran, auf seinen Plan zu verzichten. Im Gegenteil! Er betet geradezu darum, der Unteroffizier möge um die Ecke kommen, bevor Holst im Haus verschwunden ist. Dann würde es Holst hören und sehen und vielleicht mit dem Schlüssel in der Hand einen Augenblick warten und die Sache miterleben.
    Aber so kommt es nicht. Schade. Frank hatte diese Vorstellung sehr gereizt. Schon ist es ihm, als bestände ein geheimes Band zwischen ihm und diesem Mann, der im Dunkeln die Treppe hinaufgeht.
    Nicht wegen Holst wird er den Eunuchen umbringen, gewiß nicht, denn er hatte es schon vorher beschlossen.
    Aber da hatte seine Tat noch keinen Sinn gehabt. Es war fast ein Scherz, eine Kinderei. Wie hatte er gedacht? Eine Entjungferung …
    Jetzt ist es etwas anderes, etwas, das er begehrt und im vollen Bewußtsein der Folgen auf sich nimmt.
    Da sind Holst, Sissy und er, und der Unteroffizier tritt in den Hintergrund. Kromer und sein Kumpan verlieren ihre Bedeutung.
    Holst und er!
    Es ist wirklich so, als hätte er sich soeben Holst auserwählt, als ob er die ganze Zeit gewußt hätte, daß dieser im gegebenen Augenblick vorüberkommen würde, denn er hätte das für niemand anderen als den Straßenbahnfahrer getan.
     
    Eine halbe Stunde später klopfte er bei Timo auf die verabredete Weise an die kleine Tür hinten in der Gasse. Timo machte ihm selber auf. Es war fast niemand mehr da, und eins der Mädchen, die vorhin mit dem Eunuchen getrunken hatten, übergab sich im Spülstein der Küche.
    »Ist Kromer fort?«
    »Ja, er hat mir gesagt, ich solle dir bestellen, er habe eine Verabredung in der Oberstadt.«
    Das sorgfältig abgewischte Messer steckte in Franks Tasche. Timo beachtete ihn nicht weiter und spülte die Gläser.
    »Willst du was trinken?«
    Beinahe hätte er ja gesagt. Er wollte sich aber beweisen, daß er nicht aufgeregt war und keinen Schnaps brauchte. Dennoch hatte er wegen des dicken Specks auf dem Rücken des Unteroffiziers zweimal ansetzen müssen. Der Revolver blähte seine andere Tasche auf.
    Sollte er ihn Timo zeigen? Das war ungefährlich. Timo würde schweigen. Aber es war auch zu leicht. Jeder hätte das getan.
    »Gute
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