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Der Schnee war schmutzig

Der Schnee war schmutzig

Titel: Der Schnee war schmutzig
Autoren: Georges Simenon
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    Jede Woche wurden Männer in Uniform umgebracht, und die Schuld daran wurde patriotischen Verbänden in die Schuhe geschoben. Man nahm ehrenwerte Leute als Geiseln fest, erschoß sie oder verschleppte sie Gott weiß wohin. Jedenfalls hörte man nichts mehr von ihnen.
    Für Frank ging es um seinen ersten Mord und die Einweihung des schwedischen Messers von Kromer.
    Um weiter nichts.
    Das einzig Schwierige für ihn war, daß er bis zu den Knien im Schnee steckte – niemand war nämlich auf den Gedanken gekommen, den Schnee in der Sackgasse wegzuschaufeln – und zu fühlen, wie die Finger seiner rechten Hand allmählich steif wurden. Aber er hatte beschlossen, den Handschuh nicht anzubehalten.
    Es ließ ihn völlig kalt, als er Schritte hörte, denn er wußte, daß es nicht sein Unteroffizier war. Unter dessen schweren Schritten hätte der Schnee stärker geknirscht.
    Er war bloß neugierig. Die Schritte waren zu lang, um die einer Frau zu sein. Es war schon längst Sperrstunde. Aber Leute wie er, wie Kromer, wie Timos Gäste kümmerten sich aus vielen Gründen nicht um die Sperrstunde, und die Bewohner des Viertels gingen nachts nicht spazieren.
    Der Mann näherte sich der Sackgasse, und noch ehe er ihn sah, hatte Frank es begriffen, hatte es vielmehr erraten, und es erraten zu haben, bereitete ihm eine gewisse Befriedigung.
    Ein schwaches gelbliches Licht schwankte über den Schnee. Es war das einer Taschenlampe, die der Mann beim Gehen hin und her bewegte.
    Bei diesem langen, fast lautlosen, zugleich weichen und erstaunlich raschen Schritt mußte Frank unwillkürlich an seinen Nachbarn Gerhard Holst denken.
    Holst wohnte im selben Haus wie Lotte und im selben Stockwerk. Seine Wohnungstür befand sich unmittelbar der ihren gegenüber. Er war Straßenbahnfahrer, und seine Dienststunden wechselten jede Woche. Manchmal ging er sehr früh fort, noch bevor es dämmerte; manchmal kam er erst am Nachmittag herunter. Immer hatte er eine Blechdose unter dem Arm.
    Er war sehr groß und ging fast lautlos, weil er Stiefel trug, die er sich aus Filz und Lumpen selber gemacht hatte. Ein Mann, der stundenlang auf der Plattform einer Straßenbahn steht, muß darauf bedacht sein, warme Füße zu haben, und dennoch konnte Frank ohne eigentlichen Grund diese unförmigen grauen Schuhe nicht ohne ein gewisses Mißbehagen ansehen.
    Der ganze Mann wirkte ebenso grau. Er schien niemanden zu beachten, sich für nichts zu interessieren außer für die Blechdose, die er unterm Arm trug und die sein Essen enthielt.
    Trotzdem wandte Frank den Kopf ab, um ihn nicht ansehen zu müssen, oder aber er blickte Holst absichtlich aggressiv in die Augen.
    Holst würde gleich an ihm vorbeikommen. Und dann?
    Alles sprach dafür, daß er geradenwegs weiterging und dabei den runden Schein seiner Taschenlampe vor sich über den Schnee und den Pfad gleiten ließ. Frank hatte keinerlei Grund, durch ein Geräusch auf sich aufmerksam zu machen. Wie er dort an der Mauer lehnte, war er so gut wie unsichtbar.
    Aber warum hustete er gerade in dem Augenblick, da der Mann die Sackgasse erreichte? Er war nicht erkältet. Er hatte keine trockene Kehle. Er hatte den Abend kaum geraucht.
    Im Grunde hustete er, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Und das nicht einmal aus Herausforderung. Was für ein Interesse sollte er daran haben, einen Straßenbahnfahrer herauszufordern?
    Holst war übrigens kein richtiger Straßenbahnfahrer. Offensichtlich hatten er und seine Tochter früher einmal ein anderes Leben gekannt. Solche Leute gab es jetzt viele. Sie standen Schlange vor den Bäckereien, und man drehte sich nicht einmal mehr nach ihnen um. Oft schämten sie sich, nicht ganz so wie die anderen zu sein, die eine demütige Miene aufsetzten.
    Trotzdem hatte Frank absichtlich gehustet.
    War es Hoists Tochter Sissy wegen? Das wäre blöde gewesen, denn er war in Sissy nicht verliebt. Dieses sechzehnjährige Ding imponierte ihm nicht im geringsten. Im Gegenteil, er imponierte ihr.
    Öffnete sie nicht manchmal ihre Tür einen Spaltbreit, wenn sie ihn pfeifend die Treppe heraufkommen hörte? Lief sie nicht ans Fenster, wenn er fortging, und sah er nicht, wie sich die Gardine bewegte?
    Wenn er sie hätte haben wollen, hätte er sie haben können, wann er wollte. Vielleicht mit etwas Geduld und einigen Umständen. Schwer war es jedenfalls nicht.
    Das Merkwürdigste war, daß Sissy zweifellos wußte, wer er war und was für einen Beruf seine Mutter ausübte. Das ganze Haus
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