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Der Schatz von Franchard

Titel: Der Schatz von Franchard
Autoren: Robert Louis Stevenson
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Luft und gestandsich, mit dem Morgen recht wohl zufrieden zu sein. Vor Tentaillons Toreinfahrt gewahrte er eine dunkle, kleine Gestalt gedankenvoll auf einem der Pfosten hocken und erkannte augenblicks Jean-Marie.
    »Aha!« sagte er und blieb, beide Hände in launiger Haltung auf die Schenkel gestützt, vor ihm stehen. »Wir find also Frühaufsteher, so, so? Es scheint, wir haben sämtliche Laster der Philosophen.«
    Der Junge stellte sich auf die Füße und machte eine ernsthafte Verbeugung.
    »Und wie geht es unserem Patienten?« fragte Desprez. Es stellte sich heraus, daß es ihm unverändert
    »Und weshalb stehst du morgens so früh auf?« fragte er weiter.
    Jean-Marie gestand nach langem Schweigen, daß er es selbst kaum wüßte.
    »Du weißt es kaum?« wiederholte Desprez. »Wir wissen schwerlich etwas, junger Mann, was wir nicht zu erlernen suchen. Befrage dein Bewußtsein. Komm, gehen wir dieser Frage auf den Grund. Tust du es gern?« »Ja,« sagte der Junge sehr langsam, »ja, ich tue es gern.«
    »Und weshalb tust du es gern?« fuhr der Doktor fort. »(Wir befolgen jetzt die sokratische Methode.) Weshalb tust du es gern?«
    »Es ist überall so still,« entgegnete Jean-Marie; »und ich habe nichts zu tun; und dann kommt es mir vor, als wäre ich gut.«
    Doktor Desprez nahm auf dem gegenüberliegenden Pfosten Platz. Er fing an, der Unterhaltung Interesse abzugewinnen, denn es war klar, daß der Junge vordem Reden nachdachte und daß er wahrheitsgemäß zu antworten suchte. »Es scheint also, daß du Geschmack am Gutsein findest«, sagte der Doktor. »Darin gibst du mir allerdings ein Rätsel auf; denn ich dachte, du sagtest, du seist ein Dieb; und beides ist unvereinbar.«
    »Ist Stehlen denn so schlimm?« fragte Jean-Marie.
    »Es gilt im allgemeinen dafür, mein Jungchen«, erwiderte der Doktor.
    »Nein; ich meine, so wie ich gestohlen habe«, erklärte der andere. »Ich konnte ja gar nicht anders. Ich meine, es ist doch recht, Brot zu haben; es muß doch recht sein, weil man es so entbehrt, wenn man es nicht hat. Dann haben sie mich auch schrecklich geschlagen, wenn ich ohne etwas heimkam«, fügte er hinzu. »Ich wußte schon, was gut und böse ist; vordem hat mich ein Priester ganz genau unterrichtet, und er war sehr gut zu mir.« (Der Doktor schnitt bei dem Ausdruck »Priester« eine gräßliche Fratze.) »Es schien mir etwas ganz anderes zu sein, wenn man nichts zu essen hat und dafür geschlagen wird. Ich hätte ja, glaube ich, keinen Kuchen gestohlen; aber Bäckerbrot hätte doch jeder genommen.«
    »Und dann,« sagte der Doktor mit immer höhnischerer Grimasse, »hast du vermutlich Gott um Verzeihung gebeten und ihm den Fall haarklein auseinandergesetzt.«
    »Warum denn, Herr?« fragte Jean-Marie. »Ich verstehe Sie nicht.«
    »Dein Priester würde mich schon verstehen«, entgegnete Desprez.
    »Meinen Sie?« fragte, zum erstenmal beunruhigt, derJunge. »Ich glaubte immer, Gott wüßte Bescheid.«
    »Was?« knurrte bissig der Doktor.
    »Ich glaubte immer, Gott würde mich verstehen«, versetzte der andere. »Sie verstehen mich, wie ich sehe, nicht; aber Gott hat mir doch den Gedanken eingegeben, nicht wahr?«
    »Jungchen, Jungchen,« sagte Doktor Desprez, »habe ich dir nicht gesagt, daß du die Laster der Philosophen besaßest; wenn du obendrein noch ihre Tugenden zeigst, so muß ich gehen. Ich bin Studierender der göttlichen Lehren der Gesundheit, ein Beobachter der schlichten und mäßigen Natur auf ihren täglichen Gängen, und ich bin außerstande, in Gegenwart eines Ungeheuers meinen Gleichmut zu bewahren. Hast du mich verstanden?«
    »Nein, Herr«, sagte der Junge.
    »Ich will dir klarmachen, was ich meine«, entgegnete der Doktor. »Betrachte einmal den Himmel – zuerst dort hinter dem Glockenturm, wo er so licht ist, dann höher und immer höher – beug nur den Kopf ganz zurück – bis an den Scheitelpunkt der Kuppel, –wo sie schon blau wie am Mittag ist. Ist das nicht eine schöne Farbe? Erfreut sie nicht das Herz? Wir haben sie unser Leben lang gesehen, bis sie uns zur Gewohnheit geworden ist. Jetzt«, in einen anderen Ton fallend, »nimm einmal an, der Himmel würde plötzlich glühend und grell bernsteinfarben, wie lebendige Kohlen, und am Scheitelpunkt scharlachrot – ich will nicht sagen, daß er weniger schön wäre; aber würde er dir so gut gefallen?«
    »Wahrscheinlich nicht«, antwortete Jean-Marie.
    »Ebensowenig kann ich dich leiden«, entgegnete schroff der Doktor. »Ich
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