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Der Schatz von Franchard

Titel: Der Schatz von Franchard
Autoren: Robert Louis Stevenson
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Kranken zu schaffen, stellte Fragen, fühlte den Puls, scherzte, ereiferte sich ein wenigund fluchte: und dennoch! Wenn er sich umblickte, da waren die braunen Augen und warteten auf ihn mit dem gleichen fragenden, melancholischen Blick.
    Endlich ging dem Doktor blitzartig ein Licht auf. Jetzt wußte er, wo er dem Blick begegnet war. Das Kerlchen hatte, wenn auch kerzengrade gewachsen, die Augen eines Buckligen. Es war nicht im geringsten deformiert, trotzdem war es, als blickten einem unter jenen Brauen die Augen eines Krüppels an. Der Doktor holte tief Atem, so erleichtert war er, daß er nun eine Theorie gefunden hatte (er liebte die Theorien), mit deren Hilfe er sein Interesse erklären und auflösen konnte.
    Trotzdem besorgte er den Kranken mit ungewöhnlicher Elle und wandte sich, noch mit dem einen Bein auf dem Boden kniend, halb um, um mit Muße den Jungen betrachten zu können. Dieser war nicht im geringsten aus der Fassung gebracht, sondern sah seinerseits den Doktor in ungetrübter Ruhe an.
    »Ist das dein Vater?« fragte Desprez.
    »Oh nein,« versetzte der Junge, »mein Herr.«
    »Hast du ihn gern?« fragte der Doktor weiter.
    »Nein, Herr«, sagte der Junge.
    Madame Tentaillon und Desprez wechselten ausdrucksvolle Blicke.
    »Das ist schlimm, junger Mann«, fuhr letzterer mit einem Anflug von Strenge fort. »Jeder sollte die Sterbenden lieb haben, oder doch wenigstens seine Gefühle verbergen; und dein Herr liegt im Sterben. Wenn ich eine Weile zugesehen habe, wie ein Vogel meine Kirschen stiehlt, fühle ich dennoch eine leise Enttäuschung,wenn er über meinen Gartenzaun fliegt, und ich ihn auf den Wald zusteuern und verschwinden sehe. Wie viel mehr also bei einem Geschöpf wie dieses da, so stark, so klug, so reich begabt! Wenn ich mir vor Augen halte, daß in wenigen Stunden seine Rede zum Schweigen gebracht, sein Atem gestorben, ja sogar der Schatten dort an der Wand verschwunden sein wird, so fühlen selbst ich, der ich ihn nie zuvor gesehen habe, und jene Dame dort, die ihn nur als Gast kennt, uns durch eine Art Liebe bewegt.«
    Der Junge schwieg eine Weile, scheinbar in Gedanken versunken.
    »Sie kannten ihn nicht«, antwortete er schließlich.
    »Er war ein schlechter Mensch.«
    »Er ist ein kleiner Heide«, sagte die Wirtin. »In dem Punkt sind sie einer wie der andere, diese Gaukler, Akrobaten, Artisten und dergleichen. Sie haben kein Inneres.«
    Der Doktor jedoch musterte den jungen Heiden immer noch mit gerunzelter Stirn und hochgezogenen Brauen.
    »Wie heißt du?« fragte er.
    »Jean-Marie«, sagte der Junge.
    Desprez schoß auf ihn zu in einem ihm eigenen Anfall plötzlicher Aufregung und betastete allseitig vom ethnologischen Standpunkt aus seinen Kopf.
    »Keltisch, keltisch!« rief er.
    »Keltisch!« wiederholte Madame Tentaillon, die das Wort wohl mit hydrozephalisch verwechselte. »Armer Junge! Ist es gefährlich?«
    »Es kommt drauf an«, erwiderte grimmig der Doktor.Dann wandte er sich abermals an den Jungen: »Womit verdienst du dir deinen Lebensunterhalt, Jean-Marie?« erkundigte er sich.
    »Ich schlage Purzelbäume«, lautete die Antwort.
    »So, so! Purzelbäume?« wiederholte der Doktor.
    »Wahrscheinlich sehr gesund. Ich wage zu vermuten, Madame Tentaillon, daß Purzelbäumeschlagen eine gesunde Lebensweise ist. Und hast du jemals etwas anderes getan als Purzelbäumeschlagen?«
    »Bevor ich das lernte, habe ich gestohlen«, antwortete Jean-Marie ernsthaft.
    »Bei meinem Wort!« rief der Doktor. »Du bist für dein Alter ein nettes Bürschchen. Madame, wenn mein Kollege aus Bourron eintrifft, werden Sie ihm meine wenig günstige Ansicht unterbreiten. Ich überlasse ihm den Fall; sollten natürlich irgendwelche besorgniserregenden Symptome oder gar Zeichen der Besserung sich einstellen, so zögern Sie nicht, mich zu rufen. Ich habe. Gottlob, aufgehört, Arzt zu sein; aber ich bin einmal einer gewesen. Gute Nacht, Madame. Schlafe wohl, Jean-Marie.«

Zweites Kapitel: Eine Morgenunterhaltung
    Doktor Desprez pflegte früh aufzustehen. Noch ehe der Rauch in die Lüfte stieg, ehe der erste Viehwagen auf dem Wege zur Tagesarbeit auf den Feldern über die Brücke holperte, konnte man ihnin seinem Garten spazierengehen sehen. Bald pflückte er eine Weintraube, bald aß er unter dem Spalier eine Birne; bald zeichnete er alle möglichen Schnörkel mit dem Stock auf den Gartenweg; dann wieder ging er zum Fluß hinunter und sah dem endlos fließenden Wasser zu, das an dem hölzernen
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